Ich muss ihn ausspucken, das sei unprofessionell.
Ich lache ungern, ich habe Zähne wie ein Pferd.
Mehr!, wollen sie.
Ich will aber nicht.
Auch das Flirten ist mir sehr unangenehm, ich weiß nicht, wen ich zuerst angehen soll, und ohne Lächeln bleibt mir nur, ihnen zuzuzwinkern oder die Augenbrauen neckisch hochzuziehen.
Es wird sich beraten, mein Vater wartet bestimmt schon.
Die Vielversprechenden sollen ein Formular ausfüllen, ich bin nicht darunter.
Es gibt die Kategorien sportlich, schlank und weiblich. Dick gibt es nicht.
Wir sollten jetzt wirklich gehen.
Willst du wissen, warum es nicht gereicht hat?
Eigentlich nicht. Doch es war eine rhetorische Frage.
Enge Augen, sagt die einzige Frau unter den Castingleuten.
Du hast zu eng stehende Augen.
Sie sagt das, als wäre es ein schmutziges Geheimnis.
Du würdest nie eine Hauptrolle bekommen. Es ist schwer genug als Dunkelhaarige, und dann noch mit den Augen …
Svenja hat schlank angekreuzt und ihre Adresse notiert, und ich will endlich gehen, aber das ist nicht so einfach, denn am Ausgang hat sich eine Schlange gebildet, zum Bezahlen einer Gebühr, von der uns niemand etwas gesagt hat. Svenja blättert euphorisch die Scheine hin, ich will sagen, dass ich doch gar nicht mitmachen wollte und ohnehin nicht aufgenommen wurde, will aber Svenja die Chancen nicht vermiesen. Ich gebe ihnen alles, was ich habe, den Rest würde ich von meinem Vater holen.
Wie war es? Mein Vater hört Jazzradio und scheint noch nicht allzu lang gewartet zu haben.
Svenja brummt und zuckt mit den Schultern, als wir einsteigen.
Ich sage nichts. Auch nichts von dem Geld.
Svenja schaut aus dem Fenster, ich meine, ein kleines Lächeln zu erkennen.
Ich schaue mir im Rückspiegel meine Augen an.
Wir machen es alle. Wir fallen der Reihe nach um, wie die Hühner von der Stange. Wir setzen uns mit den Rücken an die Wand, wir pressen uns die Hände an die Halsschlagadern, wir hyperventilieren, bis es uns wirr wird, und dann Gutnacht.
Wir sinken herab in etwas Tiefes und Warmes, in dem nichts Platz hat außer uns. Eine muss aufpassen, dass nichts passiert und der Lehrer nichts mitbekommt.
Der Lehrer muss sich ankündigen, bevor er die Kabine betritt, er muss einen guten Grund haben und uns Zeit geben, uns zu bedecken. Er muss warten, bis wir ihn hereinbitten, wie einen Vampir über die Schwelle.
Eine passt auf oder zwei, am besten die, die ihre Tage haben, die können nicht mitmachen, wir denken, dass das gefährlich wäre: Wer nicht turnen darf, sollte auch besser nicht in Ohnmacht fallen.
Wir machen das schon eine Weile, wer damit angefangen hat, weiß niemand mehr so genau, wir haben einfach angefangen und weitergemacht.
Es ist unser Ausweg aus diesem niedrigen, stickigen Raum, in dem alles noch schlimmer wird, wenn jemand blumiges Deo versprüht. Die schimmeligen Duschkabinen benutzt keine von uns, geschminkt wird nur das Nötigste unter flackernden Neonröhren vor vollgemalten Spiegeln. Unser Ausweg ist ein Kaninchenloch zum Drin-verschwinden, es kann überallhin führen. Unser Ausweg ist willkommen und kostet nichts. Man braucht nur eine Wand und welche, die aufpassen.
Ich lehne mich an, spüre den Puls der Halsschlagader an meinen Fingern, ich drücke fest zu und atme schnell, ich gleite ab und lasse los, dass etwas kracht, kriege ich mit, aber ich bin schon zu weit untergetaucht, als dass ich etwas damit zu tun haben möchte.
Ich tauche und treibe mühelos auf einem tropischen Fluss. Ich höre Stimmen, die mich nicht weiter stören. Ich fühle ein Tätscheln an den Wangen wie mit Palmwedeln und wieder, und es ist jetzt ein festes Tätscheln, das wehtut und eigentlich ein Schlagen ist, was für mich keinen Sinn ergibt, weil sonst alles so friedlich ist, wer sollte da Ohrfeigen verteilen?
Es klatscht immer wieder, ein rohes Brennen blüht auf meinen Wangen, aber ich will noch nicht zurück. Jemand schreit einen Namen in mein Ohr, es ist mein Name, es scheint etwas Ernstes zu sein. In Zeitlupe steige ich aus dem warmen Wasser, nasses Haar klebt mir am Hinterkopf, als sie mich aufrichten. Sie sind hektisch und laut und haben den Lehrer gerufen. Das nasse Haar ist eine Platzwunde, es kommt ein Krankenwagen.
Es stellen sich Fragen nach Absichten. Ich sage, dass es nur ein Spiel ist, dass alle das machen in unserem Alter, aber davon will man nichts gehört haben. Da ich sonst nicht weiter auffällig bin, bleibt mir genaueres Erklären erspart.
Die Wunde ist genäht, eine Gehirnerschütterung nicht ganz ausgeschlossen, man behält mich da bis zum nächsten Tag. Meine Mutter ist sprachlos, mein Vater schaut besorgt, sie bringen mir Dinge zum Übernachten. Meine Bettnachbarin hat Verbrennungen im Gesicht, sie habe Glück gehabt, sagt man ihr.
Ich frage mich, was daran Glück sein soll und wie man sich im Gesicht verbrennt. Vielleicht ein Rauchunfall? Ich habe mir einmal die Wimpern versengt, als ich mir einen Zigarettenstummel wiederanzünden wollte. Das war nicht weiter tragisch, außer dass ich Angst hatte, dass meine Eltern es bemerken und eins und eins zusammenzählen. Ich kämmte mir die Haare ins Gesicht und wartete, dass die Wimpern nachwachsen.
Meine Bettnachbarin redet im Schlaf, was ich erst begreife, nachdem ich sie mehrmals vergeblich gebeten habe, deutlicher zu sprechen. Sie murmelt vor sich hin, und ich liege lange wach.
Ich nehme mir vor, sie zu fragen, was passiert ist, ob es wirklich das Zigarette-anzünden war oder ob es einen Brand gab in ihrem Haus, ihrer Schule oder Arbeit. Es ist schwer zu schätzen, wie alt sie ist.
Das Frühstück ist nicht schlecht, nicht wie in Filmen, wo das Krankenhausessen immer furchtbar schmeckt und es grünen Wackelpudding gibt. Wir bekommen Brot, Marmelade und fettarmen Fruchtjoghurt ohne Stückchen.
Meine Nachbarin liest in einem Büchereibuch, was ich am Einband erkenne, kann den Titel aber nicht entziffern. Ich schlafe noch einmal ein.
Als ich aufwache, ist sie nicht mehr im Zimmer.
Ich warte vorm Stationszimmer auf mein Entlassungsschreiben und höre durch die angelehnte Tür, wie jemand von Säure redet, davon, dass die Opfer schwerste Verletzungen davontragen, dass viele auch erblinden oder das Gehör verlieren.
Sie hat wirklich Glück gehabt!, sagt jemand anderes. Der abgewiesene Verehrer habe schlecht gezielt und nur einen kleinen Teil ihres Gesichts getroffen.
Da zähle ich eins und eins zusammen.
Ich packe meine Sachen und erschrecke, als die Tür aufgeht. Meine Nachbarin schlurft im Bademantel an mir vorbei, um das Fenster zu öffnen.
Starr mich nicht so an, sagt sie. Das ist es doch, was er will, dass alle mich anstarren, weil ich hässlich bin. Er soll nicht kriegen, was er will. Also hör auf damit.
Ich schaue auf meine Schuhe und weiß nicht, was ich sagen soll. Im Türrahmen wünsche ich ihr leise alles Gute, ich denke nicht, dass sie es gehört hat.
Die, die aufpassen sollten, bringen mir Pralinen in Herzform mit. Wir fallen nicht mehr um, wir hören einfach auf damit. Stattdessen essen wir Schokolade hinter der Turnhalle, wir kauen und rauchen gleichzeitig.
Die Toilette ist geräumig, Frauen und Behinderte. Neben der Kloschüssel ragen Metallgriffe aus der Wand, es gibt einen Wickeltisch zum Ausklappen.
Ich kann nicht hinsehen, also sehe ich nicht hin, sondern betrachte die Seifenränder auf dem Waschbecken. Ich halte Papiertücher unter den Wasserhahn, um Olga, Svenjas Cousine, das Gesicht abzuwaschen.
Olga kotzt sich die Seele aus dem Leib, Svenja tätschelt ihr den Rücken. Das ist normal, wissen wir, Übelkeit, aber schön ist es nicht. Ich muss selbst ein Würgen unterdrücken, Svenja hält Olga, so gut es geht, die Haare aus dem Gesicht. Ich stehe mit den nassen Tüchern herum und lese den Putzplan, der an einem Klemmbrett neben dem Waschbecken hängt, die Unterschriften sind alle blau und nach rechts geneigt. Olga hat aufgehört, sich zu übergeben, ich reiche ihr die Tücher, Svenja schaut auf die Uhr und flucht. Es sind noch keine drei Stunden seit der Einnahme vergangen, wir müssen also noch einmal in die Apotheke zurück.
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