„Ist er tot?“ fragte eine zweite Stimme aus der Höhe, wahrscheinlich von Bord des Schiffes. Sie klang merkwürdig hell.
„Der Junge lebt noch. Er atmet flach, und eben hatte er die Augen offen.“
„Wer mag er wohl sein?“
„Wenn Gott will, Cynthia, erfahren wir es von ihm.“
„Und wenn nicht, Dad?“
Der Mann trug mich eine Jakobsleiter hinauf. Ich merkte es an der Bewegung. Andere hilfreiche Hände griffen zu, hoben mich über die Verschanzung und legten mich auf die Decksplanken.
Jemand wischte mir das Haar aus der Stirn. Das mußte Cynthia sein, der Stimme nach zu schließen ein junges Mädchen.
„Er ist nur noch Haut und Knochen, und seine Wunden eitern.“
„Wer weiß, wie lange er schon auf der Gräting treibt. Wahrscheinlich hat er seit Tagen nichts zu sich genommen.“
Ich fror, obwohl mir jemand die nassen Plünnen auszog, mich kräftig abrubbelte und anschließend in Wolldecken hüllte. Die Kälte drang aus meinem Inneren, sie ließ sich nicht so einfach vertreiben.
Plötzlich klangen alle Geräusche unsagbar weit entfernt.
Dann war nichts mehr.
Bei meinen nächsten Erwachen spürte ich ein feuchtes Tuch auf der Stirn. Die Berührung war überaus angenehm.
Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, fiel ich erneut in einen unruhigen Dämmerzustand, in dem mir Alpträume zusetzten. Später sagte mir Cynthia, daß ich den Tag, die darauffolgende Nacht und sogar noch bis weit in den nächsten Tag hinein geschlafen hätte. Zum Ende hin war mein Schlaf jedoch unruhig geworden, und ich hatte häufig um mich geschlagen und geschrien. Damit ich mich nicht verletzte, wurde ich zeitweise auf der Koje festgebunden.
Als ich endlich die Augen aufschlug, schwebte ein engelsgleiches Geschöpf über mir. Helle Locken von der Farbe reifen Sommerweizens umrahmten zwei strahlend blaue Augen.
„Geht es dir besser?“ fragte sie.
Ich konnte nichts sagen und nur nicken. Daraufhin setzte mir Cynthia vorsichtig einen Becher an die Lippen und gab mir zu trinken. Ich verschluckte mich und mußte husten.
„Nicht so hastig. Das ist warme Ziegenmilch.“
Was sie sagte, wirkte beruhigend, und die Milch tat unbeschreiblich gut. Nach einer Weile fühlte ich mich wieder stark genug zum Aufstehen, doch Cynthia drückte mich auf die Koje zurück. Sie war bestimmt fünf oder sechs Jahre älter als ich und erstaunlich kräftig.
„Wer ist Masterson?“ fragte sie überraschend. Ich muß wohl ein ziemlich dummes Gesicht gezogen haben, denn sie lachte glockenhell. „Wenn du dich sehen könntest!“
Ich reagierte vor allem erschrocken.
„Woher kennst du den Namen?“
„Du hast im Fieber ununterbrochen geredet. Wir fürchteten schon, daß du sterben würdest, aber wie es aussieht, bist du endlich über den Berg.“
Sie erinnerte mich an Mutter, die immer genauso dagesessen und meine Hand gehalten hatte. Deshalb erzählte ich ihr von der „Seawind“ und wie es mich zur Seefahrt verschlagen hatte. Cynthia war eine aufmerksame Zuhörerin.
Als ich die Sprache auf die Haie brachte, die meine Gräting belauert hatten, sagte sie plötzlich: „Mein Gott, wir reden und reden, und ich weiß noch nicht mal deinen Namen, nur daß du aus London stammst.“
„Clinton Wingfield“, sagte ich, „meine Freunde nennen mich Clint.“
Warum ihre Wangen in dem Moment eine tiefrote Farbe annahmen, verstand ich damals noch nicht. Später versprach ich zwar, sie in ihrer Heimatstadt zu besuchen, doch inzwischen trennen uns schon wieder Ozeane.
Mit vollem Namen hieß sie Cynthia Elizabeth Mayfield. Sie stammte aus Brighton, einer Hafenstadt in Sussex, und sie hatte ihren Vater und ihren Onkel, der übrigens der Kapitän des Schiffes war, auf einer Reise in den Golf von Guinea begleitet. Mein Glück war gewesen, daß die „Good Luck“ eine Woche früher als geplant wieder auf Heimatkurs lag.
Cynthia kümmerte sich rührend um mich und mir schien, daß sie eine Aufgabe gefunden hatte, die sie erfüllte. Sie brachte mir zu essen und verband meine immer noch schwärenden Wunden. Und sie erzählte mir, wie wunderschön die See sei. Stürme schienen sie nicht weiter zu beunruhigen. Mir blieb genügend Zeit, meine Meinung über die christliche Seefahrt zu ändern.
Am dritten Tag fühlte ich mich wieder stark genug, aufzustehen und auf Erkundung zu gehen. Die Mannschaft war freundlich und behandelte mich keineswegs wie den letzten Dreck.
Als ich die Kuhl betrat, schien zwar die Sonne, doch ein unangenehm kalter Nordostwind herrschte. Die See lag ruhig, nur ein paar helle Schaumkronen waren zu sehen, und achteraus zeichnete sich wolkenverhangen die afrikanische Küste ab.
Unwillkürlich suchte ich die Kimm nach fremden Segeln ab, doch die „Good Luck“ war allein und blieb es den ganzen Tag über. Kein Spanier versuchte, uns zu kapern.
Beim abendlichen Backen und Banken, das ich erstmals im Kreis der Mannschaft genoß, erwähnte Cynthias Vater wie beiläufig, daß die Karavelle als ersten englischen Hafen London anlaufen würde. Ich geriet völlig aus dem Häuschen und vergaß beinahe, daß wir noch einige Wochen unterwegs sein würden.
Ich war nicht mehr der zehnjährige Junge, der im einen Moment himmelhoch jauchzen und im nächsten zu Tode betrübt sein konnte und schnell resignierte. Inzwischen hatte ich gelernt, mich im Leben durchzubeißen und hatte mehr Erfahrungen gesammelt als die meisten Stubenhocker mit zwanzig oder gar dreißig Jahren. Alle diese Leute, die sich nie den Wind um die Nase wehen ließen, konnte ich nur bedauern. Was hatten sie schon von ihrem Leben im Mief des Alltagstrotts?
Selbst in dem engen Verlies auf der Pattamar, das ich mit zwei Ratten teilen mußte, verlor ich nicht den Mut. Ich war ein Seemann geworden oder doch zumindest auf dem besten Weg dazu.
Eine Weile lauschte ich den Geräuschen, die von draußen hereindrangen und das einzige waren, was mich zur Zeit mit der Umwelt verband. Das Branden der See entlang des Rumpfes hatte sich verändert, es klang härter als zuvor, und in der Takelage rauschte und sang es in höheren Tonlagen. Ich schloß daraus, daß die Piraten am Wind segelten, was wiederum bedeutete, daß sie schneller mit Kurs auf die offene See liefen.
Suchten sie die Schebecke?
Die Ratten waren lästig und schienen nicht zu begreifen, daß ich nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Kaum ließ ich mich in die Hocke nieder, attackierten sie mich von neuem. Ich kriegte die eine am Schwanz zu fassen und wirbelte sie blitzschnell hoch. Es gab ein leises knackendes Geräusch, als ich sie gegen das Schott schmetterte, sie zappelte noch kurz und hing dann leblos in meiner Hand.
Manche Menschen ekeln sich vor den vierbeinigen Nagern, ich hatte sie schon immer gejagt, weil es an den Themseufern zeitweise Heerscharen von Ratten gab und sie dann auch in unserem Haus die schlimmsten Plagegeister waren.
Den Kadaver warf ich achtlos in die Ecke, wo die zweite Ratte wenig später begann, ihren Artgenossen zu verspeisen.
So makaber es klang, ich war ebenfalls hungrig. Die Inder dachten offenbar nicht daran, sich näher mit mir zu befassen. Anfangs zögerte ich noch, mich durch lautes Pochen zu melden, später hielt ich es für unnötig, weil die Pattamar jeden Augenblick den Kurs der Schebecke kreuzen mußte. Aber dieses Später zog sich endlos hin, und ich konnte mich erst recht nicht mehr durchringen, die Piraten möglicherweise gegen mich aufzubringen.
Höchstens zwei Stunden waren vergangen, als sich die Geräuschkulisse erneut veränderte.
Ich hörte Segel knallen und wußte sofort, daß die Pattamar beidrehte. Wenig später näherten sich Schritte meinem Verlies, das Schott wurde aufgerissen und ich zum Mitkommen aufgefordert. Die Gesten des Inders waren eindeutig.
Ich bemühte mich, Haltung zu zeigen. Die Piraten sollten gar nicht erst glauben, mir könnte das hilflose Treiben im Meer oder die Gefangenschaft geschadet haben.
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