Der Mann lag zusammengekrümmt auf der Seite. Vorsichtig berührte ich seine Schulter mit den Fingerspitzen. Meine Kehle war wie zugeschnürt, der Gaumen ausgetrocknet, und zu atmen wagte ich kaum noch.
„Auf was wartest du? Der beißt bestimmt nicht mehr.“ Masterson ließ ein schauerliches Gelächter folgen, das mir durch und durch ging.
Ich nahm all meinen Mut zusammen. Der Tote ließ sich plötzlich leicht herumdrehen. Es war Williams, einer der wenigen Männer, die mich stets anständig behandelt hatten. Mein Gott, warum mußte es immer zuerst die Guten erwischen?
Ich konnte nicht erkennen, woran er gestorben war, aber der Blick seiner Augen jagte mir eisige Schauer über den Rücken. Sie waren weit aufgerissen und starrten ungläubig in die Höhe, als hätte er nicht begriffen, was mit ihm geschah.
Eine Steinschloßpistole steckte hinter seinem Gürtel. Mit zwei Fingern faßte ich zu und zog sie vorsichtig heraus. Die Waffe war geladen, sie wog schwer in meiner Hand. Mit der Linken spannte ich den Schlagbolzen. Obwohl ich mir alle Mühe gab, ruhig zu bleiben, zitterte ich.
Triumphgeheul erklang auf der spanischen Galeone. Die Begeisterung der Angreifer über ihren leichten Sieg war unverkennbar. In den Wanten und der Takelage der „Seawind“ verfingen sich die ersten Enterhaken.
Vier, fünf Yards lagen noch zwischen beiden Schiffen, als die Backbordgeschütze der „Seawind“ abgefeuert wurden. So hart krängte unser Schiff nach Feuerlee, daß ich strauchelte und stürzte. Seltsamerweise erfüllte mich das nachfolgende Krachen und Bersten der Einschläge, die auf der spanischen Galeone offensichtlich großen Schaden anrichteten, mit einer gewissen Genugtuung. Ich erschrak keineswegs über meine rachelüsternen Gedanken, denn seit ich in Williams’ tote Augen gesehen hatte, war etwas in mir zerbrochen.
Musketenschüsse schreckten mich auf. Die Spanier enterten, und unsere Männer setzten sich erbittert zur Wehr.
Ein zweiter heftiger Schlag erschütterte die „Seawind“. Die angreifende Galeone hatte uns gerammt. Püttings und Wanten brachen, die Reste des Schanzkleids im Bereich des Vorschiffs wurden von Galion und Bugspriet der Spanier eingedrückt.
Wie eine alles vernichtende Woge schwappten die Dons zu uns herüber. Sie sprangen von Bord zu Bord und schwangen sich an Tauen aus ihrer Takelage hinunter. Nur noch vereinzelt fielen Schüsse, dafür klirrten die Blankwaffen um so hektischer.
Die Übermacht war erdrückend.
Todesschreie hallten über Deck. Das Knirschen der aneinanderreibenden Schiffsrümpfe und das Prasseln der weiter um sich greifenden Flammen bildeten einen unheimlichen Hintergrund.
Mit Degen, Entermessern und Äxten wurde gekämpft. Ein Erbarmen gab es nicht.
Verzweifelt zog ich mich bis ans Steuerbordschanzkleid zurück, denn noch hatten mich die Spanier nicht entdeckt. Mein Verstand riet mir, daß es höchste Zeit war, über Bord zu springen, wollte ich nicht ebenfalls getötet werden oder mit der „Seawind“ zusammen untergehen, aber das Meer erschien mir mehr denn je wie ein düsterer, alles verschlingender Moloch.
Ich hatte erbärmliche Angst, und ich zögerte zu lange.
Urplötzlich tauchte ein Spanier aus dem Qualm auf, ein bärtiger Hüne mit einem überlangen Schiffshauer in der Rechten und einem zweischneidigen Dolch in der linken Hand. Beide Klingen waren blutig.
„Siehe da!“ schnaubte er. „Eine kleine englische Ratte!“ Er bediente sich meiner Muttersprache, wenn auch mit einer miserablen Betonung.
Kompromißlos schlug er zu. Nur weil ich ebenso schnell zurückwich, verfehlte mich der Schiffshauer um gut eine Handbreite.
Ich wollte schreien, aber ich konnte es nicht. Statt dessen taumelte ich weiter zurück, bis eine zersplitterte Spiere meiner Flucht Einhalt gebot. Damit saß ich endgültig in der Falle. Der Spanier würde mich aufspießen wie ein lästiges Insekt.
Ohne mir bewußt zu werden, was ich tat, riß ich endlich die Pistole hoch und drückte ab. Der harte Rückschlag prellte mir die Waffe aus der Hand.
In meiner Panik hatte ich nicht gezielt. Um so größer war das Erstaunen des Spaniers, auf dessen Brust plötzlich ein kreisrunder roter Fleck erschien.
Er wollte etwas sagen, konnte es aber nicht. Nur ein Stöhnen drang über seine Lippen. Trotzdem versuchte er noch, mich zu töten. Seine Finger verkrampften sich um das Heft des Schiffshauers, daß die Knöchel erschreckend weiß unter der schwieligen Haut hervortraten.
Überdeutlich nahm ich jede Einzelheit wahr, als sei für mich die Zeit stehengeblieben. Eine kleine Ewigkeit verging, bis die Blankwaffe endlich auf die Planken klirrte und der Spanier am Schanzkleid zusammensackte.
Ich, Clinton Wingfield, ein halbes Kind noch, hatte einen Menschen getötet. Aber Gott war mein Zeuge – er hatte mir keine andere Wahl gelassen.
In dem Moment erschien der Profos der „Seawind“ mit einer lodernden Fackel in der Hand im Niedergang vor der Back. Sein irres und zugleich triumphierendes Lachen drang durch den Kampflärm bis zu mir. Er schlug die Fackel einem Angreifer über den Schädel – dann schien sich das Halbdeck aufzuwölben. Ein gigantischer Feuerball sprengte das Vorschiff.
Ehe ich von einer fürchterlichen Druckwelle erfaßt und hochgehoben wurde, begriff ich noch, daß der Profos die vordere Pulverkammer in Brand gesteckt hatte. Haltlos wirbelte ich durch die Luft, schlug einen erschreckten Herzschlag später irgendwo auf und wurde erbarmungslos zusammengestaucht. Vorübergehend erlöste mich eine Ohnmacht von allen Qualen.
Übermäßig lange konnte ich nicht ohne Besinnung im Meer getrieben sein, denn als mich die schreckliche Kälte ins Leben zurückholte, war die „Seawind“ noch nicht untergegangen. Sie lag allerdings schon sehr tief im Wasser und brannte lichterloh.
Von den Masten waren nur noch lodernde Stümpfe vorhanden, die Explosion hatte das gesamte Vorschiff bis zum Fockmast aufgerissen. In die Lecks ergoß sich schäumend die See.
Ich trieb knapp hundert Yards von der Galeone entfernt, rings um mich eine Vielzahl verschieden großer Trümmerstücke. An einer Planke hatte ich mich unbewußt festgeklammert, ihr verdankte ich offenbar, daß ich noch lebte.
Daß der Profos aus Verzweiflung gehandelt hatte, war mir klar, aber erst jetzt sah ich, daß er mehr bezweckt und auch erreicht hatte. Die spanische Galeone brannte ebenfalls. Bis hinauf in die Toppen hatten die Segel Feuer gefangen, ein wenig langsamer kroch die Glut an der Takelage hoch. Aus der Distanz sah es aus, als hätte eine Spinne ein glühendes Netz gewoben.
Die schwere Schlagseite nach Steuerbord war ebenfalls unverkennbar, das Schiff leckte stärker, als die Mannschaft lenzen konnte. Daß die Spanier ebenfalls sinken würden, erfüllte mich mit Genugtuung und ließ mich vorübergehend meine eigene, wenig erbauliche Lage vergessen.
Aber dann sah ich die Jolle und stellte gleich darauf fest, daß die Spanier zwei Boote ausgesetzt und bis zum letzten Platz bemannt hatten. Sie pullten aus Leibeskräften und schlugen die Segel an, als sie die unmittelbare Gefahrenzone verlassen hatten.
Ich focht mit mir selbst einen verzweifelten Kampf aus. Sollte ich mich bemerkbar machen? Aber die Spanier dachten bestimmt nicht daran, mich aufzunehmen. Falls sie mich überhaupt beachteten, würden sie wohl eher auf mich schießen.
Als ich endlich zu der Erkenntnis gelangte, daß ich als hilflos abtreibender Schiffbrüchiger kaum eine bessere Überlebenschance hatte und aus Leibeskräften zu rufen begann, segelten die Spanier schon zu weit entfernt. Sie hörten mich nicht mehr …
Ich hatte die Augen geschlossen, um die irrlichternden Blitze nicht mehr sehen zu müssen, und versuchte, auch den rollenden Donner zu ignorieren. Beides fiel mir unsagbar schwer, denn die flackernde Helligkeit drang mühelos durch die Lider, und der Donner war so laut, daß er sogar Tote wieder zum Leben erweckt hätte.
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