Trotz des ausgestreuten grobkörnigen Sandes wurden die Planken allmählich rutschig. Der anhaltende Regen hatte daran ebenso Schuld wie die Geschützbedienungen, die die ausgebrannten Überreste der Kartuschen zumeist achtlos hinter sich warfen.
Bald waren wir alle nur noch pulvergeschwärzte, schwitzende Marionetten, die stumpfsinnig unablässig die gleichen Bewegungen ausführten.
Rohr abkühlen und die verbrannten Teile der Kartusche entfernen. Dann den mit Lammfell bezogenen Wischer ansetzen und die Bohrung reinigen. Wehe, es verbleibt noch Glut im Zündkanal oder tief unten im Rohr. So schlau war ich selbst, daß ich mir die möglichen Folgen ausmalen konnte, Masterson brauchte mich nicht so eindringlich darauf hinzuweisen.
Das Pulver – entweder lose oder in der Kartusche – mit der Ladeschaufel einführen. Zehn Pfund sind es für eine Basilisk. Danach die Kugel. Sie wurde mit dem Setzer am anderen Ende der Schaufel und einem Wergpfropfen festgerammt.
Masterson stach die Kartusche durch das Zündloch an und schüttete feinkörniges Pulver auf Zündloch und Pfanne. Dafür brauchte er mich nicht, nur noch für das Ausrennen des Geschützes.
Das Gefecht zog sich endlos hin. Mehrmals glaubte ich den Klang der Schiffsglocke zu hören, aber mir blieb nie die Zeit, mich darauf zu konzentrieren. Was spielte es auch für eine Rolle, ob das gegenseitige Abwracken eine Stunde, zwei Stunden oder gar einen halben Tag dauerte?
Der Spanier lag inzwischen querab und hatte das Großsegel aufgegeit, um nicht an uns vorbeizulaufen. Unaufhaltsam schob er sich näher heran. Seine Überlegenheit erlaubte ihm ein derartiges Manöver.
„Pulver!“ brüllte Masterson. „Verdammt, du kleine Kröte, ich brauche Pulver!“
Am liebsten hätte er wohl mit der Ladeschaufel auf mich eingedroschen, doch dann begnügte er sich, nur drohend die Faust gegen mich zu erheben. Ich war froh, endlich wieder unter Deck verschwinden zu können.
Im Zwischendeck stand das Wasser mittlerweile fast eine Handspanne hoch. Mir war es egal. Ich stapfte zur Pulverkammer, lud mir zwei Zehn-Pfund-Kartuschen auf und kehrte auf demselben Weg zurück.
Urplötzlich holte die „Seawind“ über. Meine Schritte wurden schneller, der Versuch, die jähe Bewegung abzufangen, endete kläglich. Ich schlug der Länge nach hin – und mit mir die beiden Kartuschen. Sie klatschten ins Wasser.
Mit nassem Pulver läßt sich kein Schuß abfeuern. Also blieb mir nichts anderes übrig, als noch einmal die Pulverkammer aufzusuchen. Diesmal war ich so schlau, nur eine Kartusche mitzunehmen, die wuchtete ich mir aber auf die Schulter, und es mußte schon mit dem Teufel zugehen, wenn ich sie nicht heil nach oben brachte.
„An dir verderben sich selbst die Haie den Magen.“ Masterson empfing mich mit grimmiger Miene, riß mir das Leinensäckchen aus der Hand und rammte es in den Lauf der Basilisk.
Die Spanier waren mittlerweile bis auf wenig mehr als fünfzig Yards heran. Ich hatte nicht gefragt, wer das Gefecht begonnen hatte, denn Masterson wäre mir die Antwort bestimmt schuldig geblieben.
Achtmal hintereinander blitzte es drüben auf. In gleichbleibenden Abständen. Das war eine volle Breitseite.
Wie eine Strafe Gottes brach das Eisengewitter über die „Seawind“ herein. Ich hatte ausreichend Gelegenheit, die Trefferwirkung vom Bug bis zum Heck zu verfolgen. Obwohl ich mittendrin stand, blieb ich seltsamerweise verschont.
Eine Kettenkugel takelte den Bugspriet ab, eine zweite zersplitterte den Fockmast in Höhe des Marses. Mit Donnergetöse rauschte die Stenge nach unten und durchschlug die Back.
Im Bereich des Vorschiffs blieb vom Schanzkleid nur Kleinholz. Eine Ladung Grobschrot fegte wie ein eiserner Besen über die Back und tötete die Männer, die den Fall der Stenge überstanden hatten.
Vor dem Backbordniedergang zum Achterdeck erfolgte der wohl schwerste Treffer. Eine feindliche Kugel zerschmetterte die letzte Lafette, das feuerbereite Geschütz kippte, stieß gegen ein Feuerbecken und verstreute die glühende Holzkohle im Umkreis von mehreren Yards.
Die Ladung im Rohr krepierte, eine grelle Feuerzunge stach aus der Mündung und setzte augenblicklich zwei Taurollen in Brand. Die Kugel zerschmetterte einige Aufbauten, aber auch das Rohr selbst wurde zum tückischen Geschoß, durchbrach das Lukensüll und verschwand dröhnend im Laderaum.
Die nächste Explosion riß mich von den Beinen. Ein Pulverfaß hatte Feuer gefangen und wurde zur Ursache bedrohlicher Brandnester. Überall züngelten Flammen auf, leckten gierig an Tauwerk und Masten in die Höhe und setzten trotz der Nässe die Segel in Brand.
Unter Deck wurden jetzt die Cannon-Petros abgefeuert, die eine reine Nahkampfwaffe mit verhältnismäßig großem Kaliber waren. Sie dokumentierten die letzte verzweifelte Anstrengung des Kapitäns, das Kriegsglück vielleicht noch zu wenden.
Die Cannon-Petros verschossen 24,5 Pfund schwere Steinkugeln, waren also keineswegs geeignet, den Spanier in Brand zu stecken, wohl aber, ihm klaffende Lecks zuzufügen.
All das war mir längst geläufig. Ich hatte in meinem Vater einen guten Lehrmeister gehabt, und der Hafen von London bot wahrlich Anschauungsmaterial in Hülle und Fülle. Gleichwohl hatte ich praktische Kenntnisse nie erworben.
„Wenn du eine Muskete verkaufen willst, mußt du wissen, wie sie funktioniert und ihre Eigenheiten kennen“, pflegte Vater stets zu sagen. „Aber das setzt noch lange nicht voraus, daß du deshalb auch eine ruhige Hand brauchst. Bei der Ausrüstung von Schiffen, Clint, ist es ähnlich. Du wirst eines Tages mein Geschäft übernehmen, also lerne von der Pike auf.“
Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus den Augen. Der Pulverqualm ließ nur noch ein Blinzeln unter halb geschlossenen Lidern hindurch zu.
Die Flammen waren beinahe überall. Nur Verrückte legten es jetzt noch darauf an, das Gefecht fortzuführen. Wie viele von unseren Geschützen noch einsatzbereit waren, konnte ich nicht erkennen. Ich schätzte aber, daß inzwischen die halbe Backbordbatterie ausgefallen war.
Die spanische Galeone lag auf Enterkurs.
Unglaublich schnell hatten sie ihre Geschütze nachgeladen. Während ihnen von der „Seawind“ nur mehr ein klägliches Abwehrfeuer entgegenschlug, fielen sie mit einer weiteren Breitseite über uns her, die den Dreimaster endgültig abwrackte.
Die Luft war erfüllt von nicht enden wollendem Splittern, Bersten und Krachen, das wie der Todesschrei der „Seawind“ klang, und tatsächlich neigte sie sich weit über. Gurgelnd und schäumend ergoß sich die See durch die Lecks ins Schiff. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis wir auf Tiefe gingen.
Groß und drohend, mit schäumender Bugwelle, segelte die spanische Galeone heran. Sie würde uns rammen.
Einige besonders beherzte Männer versuchten, den Widerstand neu zu formieren. Ich hörte, daß sie die Spanier bis auf wenige Yards heranlassen und dann sämtliche Geschütze gleichzeitig abfeuern wollten. Sie sahen sogar davon ab, die Stücke auszurennen, weil dies den Gegner nur gewarnt hätte.
„Wenn wir schon absaufen, dann nehmen wir diese hinterhältigen Dons mit in den Tod.“
Mir war abwechselnd heiß und kalt, ich würgte, rang nach Atem, dachte sehnsüchtig an meine Eltern und schickte ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel hinauf. Den Blick konnte ich nicht mehr von der Galeone abwenden, die wie ein beutegieriger Raubvogel auf uns zustieß.
„Clinton, verdammt, bist du taub?“ brüllte mich irgend jemand an, ich weiß bis heute nicht, wer. „Nimm den Toten die Pistolen ab und dann ziele genau, wenn die Spanier entern.“
Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, gehorchte ich. Immer wieder hatte ich mir sehnsüchtig gewünscht, endlich aus diesem Alptraum aufzuwachen, aber als ich jetzt den ersten Toten berührte, mußte ich endgültig einsehen, daß die Wirklichkeit schrecklicher war als ein Traum.
Читать дальше