Der Wolkenbruch hielt unvermindert an, aber wenigstens war es ein warmer Regen.
Mit der Zeit konnte ich zwei Gewitter unterscheiden. Das eine war aus Südosten herangezogen, der anhaltenden Windrichtung, das andere hing offensichtlich unverrückbar im Nordosten.
Die Wellen hatten eine beachtliche Höhe erreicht und trugen Schaumkronen. Damals auf der „Seawind“ hätte ich mich in dieser Situation zu Tode geängstigt, doch inzwischen hatte sich sehr viel verändert. Ich war verständiger geworden und hatte gelernt, das Meer nicht mehr als meinen Feind zu betrachten. Heute genügte es, daß ich eine Planke hatte, die mir Halt bot, und mein Magen nahm selbst schweren Seegang gelassen hin, ohne zu rebellieren.
Wenn die Strömung anhielt und der Wind nicht überraschend umsprang, trieb ich ohnehin der Küste entgegen. Vielleicht war ich dem Land schon näher, als ich dachte, und nur die Regenschleier hinderten mich daran, den fahlen Streifen an der Kimm zu sehen.
Das Unwetter hatte sogar sein Gutes, brauchte ich mich doch möglicher Haie wegen nicht zu sorgen. Andererseits wurde ich zunehmend zum Spielball der entfesselten Naturgewalten, wurde in die Höhe gewirbelt und ebenso abrupt wieder fallen gelassen, die Wogen schlugen über mir zusammen und gaben mich erst wieder frei, wenn der Atem knapp wurde. Ich durfte das alles nicht als Kampf sehen, bei dem ich sicher unterlegen wäre, sondern nur als Kräftemessen, als Herausforderung, meine Stärke zu beweisen.
Als der Donner endlich nachließ und die Schwärze aufriß, stand die Sonne bereits im Westen. Ich schätzte, daß es gegen zwei Uhr nachmittags war.
Erschöpft und glücklich zugleich begann ich, die Kimm abzusuchen. Der Wellengang war immer noch hoch, aber sobald ich auf einen Kamm hinaufgetragen wurde, bot sich mir eine einigermaßen gute Sicht.
Die Küste blieb verborgen. Auch kein Segel zeigte sich. Dabei war ich überzeugt, daß mich die Seewölfe suchten. Kapitän Killigrew ließ seine Leute nicht im Stich.
Bald brannte die Sonne wieder gewohnt heiß am Firmament. Ich hatte mehrmals Salzwasser geschluckt und fühlte mich entsprechend schlapp und durstig. Jetzt wäre mir der Regen willkommen gewesen, doch die Wolken hatten sich verzogen. Mir blieb nur, hin und wieder die aufgequollenen Lippen mit etwas Speichel zu benetzen. Das half zumindest für den Augenblick.
Die erneut einsetzende sanfte Dünung erlaubte mir, meine verkrampfte Haltung zu lockern. Ich gab der Erschöpfung nach, die mich für kurze Zeit einnicken ließ.
März 1598.
Ein Ruck ging durch das lichterloh brennende Achterschiff der „Seawind“, das sich gegen den Wind zu bewegen begann. Im ersten Moment verstand ich überhaupt nichts, entdeckte dann aber den Strudel, der das Wrack in eine schneller werdende Kreisbewegung zwang.
Bevor die Galeone versank, erfolgten weitere kleine Pulverexplosionen, die sie mittschiffs auseinanderbrechen ließen. Eine Wolke von Funken und Asche stob auf und verwehte mit dem Wind.
Dann: ein letztes, gequält anmutendes Ächzen, das gierige Gurgeln der See, und die „Seawind“ verschwand so spurlos, als hätte sie nie existiert.
Die spanische Galeone hielt sich noch, aber ihr Todeskampf war ebenfalls nur mehr Sache weniger Minuten, denn inzwischen wurde die Steuerbordverschanzung schon von den Wellen überspült.
Ich empfand weder Furcht noch Genugtuung. Eine seltsame Leere hatte von mir Besitz ergriffen.
War ich noch ich selbst? Es erschien mir, als könne ich mich sehen, wie ich hilflos im Wasser trieb. Nicht einmal die Erkenntnis, daß ich vielleicht sterben mußte, berührte mich.
Meine Gedanken schweiften nach London ab. Ich hörte Vater reden und mit Kapitänen um jede Kupfermünze feilschen, sah Mutter, wie sie, von schweren Hustenanfällen gebeugt, an ihren Kochtöpfen stand. Alle frühere Schönheit war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie grämte sich. Hielt sie mich für tot, oder hatte sie erfahren, daß ich einer Preßgang in die Hände gefallen war?
„Mutter …“ Ihr Gesicht verwischte vor meinem inneren Auge und wich der endlos scheinenden Wasserwüste des Atlantiks.
Allerlei Treibgut schwamm auf. Erschreckt beobachtete ich, daß da, wo die „Seawind“ gesunken war, Luftblasen aufstiegen. Kehrten die Toten zurück? Aber dann durchbrachen nur einige Fässer die Oberfläche, sprangen fast hoch und klatschten aufs Wasser zurück.
Wenige Dutzend Schritte entfernt trieb eine Gräting. Sie erschien mir weitaus sicherer als die schmale Planke. Ohne zu zögern, schwamm ich hinüber.
Die Gräting erwies sich in der Tat als ideal. Zum einen lag sie fester als ein Boot im Wasser, zum anderen war ich auf ihr kaum noch der unangenehmen Kälte ausgesetzt, die mir wie mit tausend Nadeln ins Fleisch stach. Sie hatte nur einen Fehler: Sie ließ sich in keiner Weise steuern. Nicht mal einen Mast konnte ich aufrichten.
Im selben Atemzug fragte ich mich, wozu. Ich hatte keine Ahnung, wo ich nach Land suchen mußte und wie weit die Küste entfernt war. Nicht mal die ungefähre Position war mir bekannt.
Suchend blickte ich zur Kimm. Erst dabei bemerkte ich, daß die spanische Galeone verschwunden war. Ihr Untergang hatte sich lautlos vollzogen.
Solange ich das Schiff in meiner Nähe wußte, hatte ich die Einsamkeit nicht gespürt, die mir nun deutlich wurde. Ich begann erneut zu schreien und zu rufen, bis meine Stimme umkippte und ich keuchend auf die Knie sank. Danach schossen mir die Tränen in die Augen, ich heulte und schluchzte hemmungslos. Seltsamerweise fühlte ich mich anschließend wohler, irgendwie befreit, und es fiel mir leichter als zuvor, klare Gedanken zu fassen.
Wahrscheinlich würde ich tagelang auf dem Meer treiben. Daß ich nichts zu essen hatte, war schlimm genug, aber ohne Trinkwasser hielt ich es kaum lange aus. Mein Körper hatte während der Sturmtage zu viel Flüssigkeit verloren. Schon aus dem Grund interessierten mich die paar von der „Seawind“ stammenden Fässer.
Schwimmen hatte ich mit fünf in der Themse gelernt. Deshalb fiel es mir nicht besonders schwer, die Fässer zur Gräting zu holen und hinaufzuwuchten.
Drei Stück waren es. Zwei von ihnen waren leer, wie ich mit Schütteln feststellte – ich behielt sie trotzdem bei mir. Falls es mir gelang, wenigstens eines aufzubrechen, konnte ich Regenwasser auffangen.
Das dritte, leider das kleinste Faß, schien noch zu knapp einem Drittel gefüllt zu sein. Mit klammen Fingern versuchte ich, den im Spundloch festsitzenden Korken herauszuziehen, was sich als überaus mühselig erwies. Als ich es endlich geschafft hatte, stieg mir der Geruch von Rum in die Nase.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Meine erste Regung war, dem Fäßchen einen kräftigen Tritt zu versetzen, damit es für immer in den Fluten verschwand, doch dann fragte ich mich, warum, um alles in der Welt, ich den Rum nicht trinken sollte.
Der erste Schluck brannte wie Feuer in der Kehle, beim zweiten hatte ich mich schon daran gewöhnt. Danach war mir alles egal, weil sich eine wohlige Wärme im Magen ausbreitete. Ich trank weiter, bemüht, möglichst wenig von dem kostbaren Naß zu verschütten.
Als ich das Fäßchen endlich absetzte, hatte ich gut die Hälfte des Rums geleert. Daß das entschieden zuviel war, merkte ich bald. Erst wurde mir hundeelend, dann begann sich alles um mich herum in einem rasenden Wirbel zu drehen, und der Himmel überzog sich mit grellen, unwirklichen Farben.
Verzweifelt krallte ich die Finger in die Öffnungen der Gräting, fand aber keinen richtigen Halt. Selbst als ich mich flach auf den Bauch warf, hatte ich das Gefühl, von heftigen Orkanböen gebeutelt zu werden …
„Wie lange wollen wir nach Clint suchen?“ fragte Edwin Carberry. Er schaute dabei nicht den Seewolf an, sondern hielt den Blick nach wie vor aufs Wasser gerichtet, als fürchte er eine unangenehme Antwort.
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