Hasard zuckte mit den Schultern.
„Bis wir ihn gefunden haben oder sicher sagen können, daß er ertrunken ist. Warum?“
„Nur so“, erwiderte der Profos. „Mir ist der Junge in den paar Wochen ans Herz gewachsen. Ist verdammt lange her, daß wir einen Moses an Bord hatten.“
Der rauhbeinige Carberry ließ wieder mal erkennen, daß er eine empfindliche Seele hatte. So erbarmungslos er mit den Fäusten zuschlagen konnte, so weich und nachgiebig war er mitunter. Aber das mußte beileibe kein Widerspruch sein.
Nach wie vor war die Freiwache aufgehoben. Alle Arwenacks hielten sich an Deck auf.
Das Gewitter war vorüber, die Sonne brannte wieder heiß vom Himmel, und Wolken gab es nicht. Die See beruhigte sich. Unter diesen Umständen konnte selbst ein im Wasser treibender kleiner Junge nicht lange unbemerkt bleiben.
Trotzdem blieb die Suche erfolglos.
Der Seewolf erweiterte das Gebiet schließlich in Richtung der vorherrschenden Strömung und des Windes. Jedoch konnte auch Dan O’Flynn nicht zutreffend sagen, ob und wieweit Clinton Wingfield möglicherweise abgetrieben worden war.
Den Arwenacks blieb nichts anderes übrig, als systematisch in Richtung auf das Festland zu kreuzen. Das war eine mühselige und zeitraubende Prozedur, doch nur so konnten sie sicher sein, alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben.
Big Old Shanes Vorschlag, die Jollen auszusetzen und auf diese Weise das Suchgebiet zu erweitern, fand uneingeschränkt Zustimmung. Das war gegen vier Glasen nach dem Mittag.
Bis zum Abend verlief die Suche jedoch so erfolglos wie zuvor.
März 1598.
Mein bewußtes Erinnerungsvermögen setzte wieder ein, als die Sonne blutrot im Meer versank.
Mir war übel wie an den Tagen zuvor, und in meinem Schädel dröhnte ein riesiges Hammerwerk. Jede Bewegung verursachte stechende Schmerzen, deshalb blieb ich zunächst liegen und versuchte, mit mir selbst klarzukommen.
Sonne und Wind hatten meine nassen Plünnen getrocknet. Lediglich von unten drang noch Kälte durch das hölzerne Gitter hoch, und gelegentlich schwappte eine Welle über.
Endlich schaffte ich es, mich aufzurichten, ohne daß gleich alles in rasende Bewegung verfiel. Der Rum war an meinem Zustand schuld, wegen dem Teufelszeug war mir nicht nur hundeelend, ich spürte auch noch ein schreckliches Kratzen im Gaumen. Mein Durst war stärker als zuvor.
Das allein wäre wegen der hereinbrechenden Nacht vielleicht noch zu ertragen gewesen, doch der Anblick der grauen Dreiecksflosse, die keine zehn Yards vor meiner Gräting vorbeizog, versetzte mich in Todesangst.
Nichts fürchtete ich mehr als die Begegnung mit einem Hai.
Jäh änderte er die Richtung, schwamm auf mich zu, und erst im letzten Moment tauchte er. Ich hielt die Luft an und wartete auf den vernichtenden Aufprall von unten her, der jedoch ausblieb.
Jedes Schaukeln der Gräting erfüllte mich jetzt mit Panik. Ganz klein rollte ich mich zusammen.
Anfangs schaffte ich es, die Augen geschlossen zu halten, doch nach einer Weile konnte ich nicht mehr anders, als wieder aufs Wasser zu schauen, obwohl ich mich genau vor dem fürchtete, was ich dann auch tatsächlich sah. Der Hai war immer noch da und nicht allein. Zwei weitere der verfluchten Biester zogen ihre Kreise um die Gräting.
Die letzten Sonnenstrahlen geisterten über den Himmel. Übergangslos brach die Nacht herein. Ein gleißendes Sternenmeer spiegelte sich auf den Wellen, ihr Schein erschien mir kälter als sonst und ließ mich frösteln.
Nur eine leichte Strömung bewegte noch die Gräting. An Schlaf durfte ich in dieser Nacht nicht denken, denn die Haie begleiteten mich mit der Ausdauer blutrünstiger Raubtiere. Meine Tränen waren versiegt.
Mehrmals nickte ich ein, schreckte aber stets sofort wieder hoch, weil ich im Halbschlaf die gierig aufgerissenen Mäuler der Bestien vor mir sah.
Erst im Morgengrauen verschwanden die Haie – ebenso schnell und überraschend, wie sie erschienen waren.
Ich war am Ende meiner Kräfte. Deshalb glaubte ich auch, meinen Augen nicht mehr trauen zu dürfen, als ich die Segel an der Kimm sah.
Verzweifelt blinzelte ich in die Morgensonne. Die Segel blieben, sie wurden sogar größer.
Eine Karavelle.
Hatte mich die Crew entdeckt? Ich versuchte zu winken, doch brachte ich den Arm kaum über den Kopf hinaus. Meine Hilferufe gerieten zum heiseren Krächzen, das bestimmt niemand hörte.
Die Karavelle segelte mit raumem Wind über Backbordbug. Anfangs hatte ich noch den Eindruck, daß sie auf mich zuhielt, doch dann erkannte ich, daß sie mindestens zwei Kabellängen entfernt vorbeilaufen würde.
Ich hatte absolut gar nichts, mit dem ich mich bemerkbar machen konnte.
Die Karavelle erreichte den Punkt der größten Annäherung und entfernte sich wieder. Der Wind trug mir das Rauschen der Bugwelle zu, und wenn mir die Augen keinen Streich spielten, erkannte ich die englische Flagge im Top.
„Helft mir!“ Meine eigene Stimme erschreckte mich. Erneut versuchte ich zu winken, doch die Anstrengung war zu groß. Mir wurde schwarz vor Augen …
Begann ich zu phantasieren?
Ich blinzelte, kniff die Augen ein zweites Mal zusammen und schüttelte den Kopf. Aber das Bild blieb: knapp eine Meile voraus zeichneten sich Segel vor dem wolkenlosen Himmel ab.
In der ersten freudigen Erregung, noch unter dem Eindruck meiner Erinnerung an den Untergang der „Seawind“, glaubte ich, die Schebecke der Seewölfe vor mir zu haben. Doch die Enttäuschung folgte auf dem Fuß.
Die Segel waren hell, nicht geloht, und hatten Trapezform, im Gegensatz zu den reinen Lateinersegeln des Mittelmeerdreimasters. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Dhau oder einen der dhauähnlichen indischen Küstensegler. Die Hauptsache war jedoch, daß ich aufgefischt wurde. Alles Weitere ergab sich danach von selbst.
Der fremde Dreimaster kreuzte gegen den Wind auf. Vermutlich war er in Nagapattinam oder einem der kleineren Küstenorte in See gegangen. Obwohl er sich nur langsam näherte, konnte ich bald Einzelheiten erkennen.
Das Schiff hatte einen sehr weiten vorfallenden Bug und einen geraden Vorsteven, was dem Vorschiffbereich ein schlankes Profil verlieh. Das abgerundete Achtergatt wirkte ziemlich völlig. Die drei Masten standen parallel nach vorn geneigt, der Winkel betrug nach meiner Schätzung etwa zwanzig Grad, und die Segel wurden an überlangen Rahruten gefahren. In Tuticorin und ebenso in Mannar hatte ich Schiffe dieses Typs als Anderthalbmaster gesehen.
Die Inder hatten mich entdeckt, denn sie holten die Segel herum. Ich hörte Stimmen, die ich nicht verstand, aber ich erwiderte die mir geltenden Zurufe.
„Ich bin Engländer – Inglés, versteht ihr?“
Das Palaver an Bord der Pattamar ging unverändert weiter. Ich sah bärtige, tief gebräunte Gesichter. Die meisten Männer trugen nur Wickelhosen und helle Turbane, ihre Oberkörper waren nackt.
Ein überaus muskulöser Bursche warf mir ein Tau zu. Das Ende klatschte neben mir ins Wasser, ich brauchte mich nicht anzustrengen, um es zu greifen.
Die Fahrt der Pattamar war immer noch hoch. Ich wurde untergetaucht, schluckte Wasser, zog mich mühsam in die Höhe und hatte Schwierigkeiten, der schäumenden Bugwelle zu widerstehen, die mich mit voller Wucht traf. Die Inder standen nur oben an der Reling und gafften, aber keiner zeigte Anstalten, das Tau einzuholen.
Noch hatte ich anderes zu tun, als mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Wäre ich schon schwächer gewesen, hätte ich es vermutlich nicht geschafft, Hand über Hand und trotz der reißenden Strömung aufzuentern. Endlich war ich aus dem Wasser raus und konnte mich mit den Füßen am Schiffsrumpf abstemmen, kurz darauf zog ich mich ächzend über das Schanzkleid.
Die Inder, fast alle verwegene Gestalten, standen im Halbkreis herum und gafften.
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