Wie also können wir erfahren, ob wir Selbsttäuschung mit Realität verwechselt haben? Wie können wir erkennen, dass unser Leben eher auf dem beruht, was wir annehmen, als auf dem, wie die Dinge in Wahrheit liegen? Eigentlich ist das gar nicht so schwer! Jedes Mal, wenn unsere Wunschvorstellung mit der Realität kollidiert, können wir die Entscheidung treffen, dem, was wir erkennen, nicht mehr auszuweichen oder aber eine andere Perspektive einzunehmen. Statt der Selbsttäuschung vertrauen wir nun unserem inneren Wissen, erkunden uns selbst mit gründlicher, unerschrockener Ehrlichkeit, sehen unserer Selbsttäuschung ins Auge und lösen uns unverzüglich aus diesen Fesseln.
Keine Bange! Okay, kann sein, dass das frustrierend schwer ist! Nicht schwer ist es jedoch, die Gelegenheit zur Durchführung zu finden, sie ist immer da, wenn wir nur bewusst Ausschau danach halten.
Völlig entnervt von einem Tag voller Probleme eilte ein Meditationsschüler zum Zendo. Er freute sich auf die Stille der Meditation, die ihn vom Druck des Tages entlasten würde, und darauf, sich hinzusetzen und seine Fähigkeiten zu Gelassenheit und Akzeptanz weiterzuentwickeln.
Als er das dem Meister mitteilte, lachte der. »Klingt ganz so, als hättest du einen Tag voller Gelegenheiten gehabt, dich in diesen Fähigkeiten zu üben und sie weiterzuentwickeln, und du hast keine davon genutzt.«
Füge niemandem Schaden zu – Gewaltlosigkeit und Gewalt
Wenn man nur die Wahl zwischen Feigheit und
Anwendung von Gewalt hat, rate ich zu Letzterem.
Gandhi 
Ein Krieger kann sich für den Pazifismus entscheiden.
Alle anderen sind dazu verdammt.
Verfasser unbekannt 
Bevor wir fortfahren, müssen wir aus Gründen, die auf der Hand liegen, offen und ehrlich die buddhistische Lehre, keinem Lebewesen zu schaden, erörtern.
Immer wieder habe ich von bestimmten Kollegen, die wie ich Dharma praktizieren, gehört, dass es falsch ist, wenn ich buddhistische Übungen mit knallhartem Kampfkunst-Training verbinde. Ihr solltet mal erleben, wie böse diese Kollegen werden, wie laut, barsch und sogar feindselig ihre erhobenen Stimmen klingen und wie aggressiv ihre Körpersprache ist, wenn wir über Gewaltlosigkeit diskutieren. (Eigentlich läuft diese Diskussion stets darauf hinaus, wie falsch ich liege.) Sie betrachten jede Art von hartem Kampfkunst-Training schon an sich als gewalttätig und unabhängig davon, ob man es jemals anwendet oder nicht, als unvereinbar mit ihrer buddhistischen Philosophie oder ihren Meditationspraktiken.
Viele Menschen, die den Buddhismus praktizieren, glauben, dass nur die sanfte Form der Kampfkunst als Selbstverteidigung legitime meditative Übungen umfasst, die »Hardcore«-Kampfkunst hingegen nicht.
Sie haben nichts gegen sanfte Arten von Kampfsport wie Tai Chi (das sich wunderbar für meditative Bewegungsabläufe eignet und das körperliche Wohlbefinden fördert, zur Selbstverteidigung jedoch nicht taugt) und Aikido (was dazu geeignet wäre, aber stets in einem choreografierten szenischen Ablauf mit einem entgegenkommenden Partner trainiert wird) und betonen, dass man im wirklichen Leben niemals kämpfen oder seine Fähigkeiten erproben sollte.
Das kommt mir widersprüchlich vor. Immerhin glauben Buddhisten doch, dass wir bei allen Handlungen eine meditative Denkweise einnehmen sollten. Das betrifft die Art und Weise, wie wir unser Essen zu uns nehmen, genauso wie die Art und Weise, wie wir unseren Darm entleeren. Und dennoch haben einige Buddhisten mir gegenüber behauptet, bei körperlichen Aktivitäten könne man nur Übungen als für Meditationen geeignet einstufen, die man auf langsame und lockere Weise durchführe. Meiner Meinung nach ist das Unsinn. Wenn alle Übungen langsam und locker durchgeführt werden, worin liegt dann die Herausforderung? Ihr solltet einmal versuchen, eine meditative Geisteshaltung zu bewahren, wenn ihr unter Druck geratet und euer Adrenalin mit Millionen Stundenkilometern durch den Körper rast! Könnt ihr auch dann noch Achtsamkeit bewahren, wenn ihr mitten in einer chaotischen Situation steckt? Oder wenn jemand versucht, euch bewusstlos zu schlagen, euch zu würgen oder euch den Arm abzureißen?
Keine Bange. Ich bin mir sehr wohl bewusst, wie es sich anfühlt, wenn man auf einem Meditationskissen in einer kontrollierten, förderlichen Umgebung sitzt und die Gedanken mit Höchstgeschwindigkeit rasen. Aber jetzt rede ich von Kampfkünsten. Und ich behaupte, dass unser Vermögen zur Achtsamkeit sich am besten in einer tempogeladenen extremen Situation des wirklichen Lebens testen lässt und eher nicht in einem bedächtigen, angemessenen und künstlich kontrollierten Umfeld. Wenn unsere Achtsamkeit keiner Bedrohung ausgesetzt ist, wie können wir dann unsere Fähigkeit prüfen, mit Achtsamkeit auf eine Bedrohung zu reagieren? Eine alte Zen-Geschichte weist darauf hin.
Als die Mönche während eines furchtbaren Erdbebens zwischen den Gebäuden herumrannten, ging der Meister des Tempels in den Küchenbereich und leerte inmitten des Chaos gelassen ein großes Glas Wasser.
Sobald das Erdbeben vorbei war, versammelten sich der Meister und seine Mönche.
»Habt ihr während des Erdbebens gesehen, wie ich, als ihr Novizen jede Beherrschung verloren habt, ganz ruhig bleiben und ein Glas Wasser genießen konnte?«, fragte der Meister. »Das lag daran, dass ich durch meine Jahre auf dem Kissen gelernt habe, die Meditation meisterhaft zu beherrschen.«
Ein junger Mönch, der ebenfalls in der Küche gewesen war, stand auf, verneigte sich und sagte: »Ehrwürdiger Meister, das war kein Wasser, sondern Sojasoße.«
Ein anderer mir bekannter Einwand gegen harte Kampfkünste behauptet, die an der Realität orientierten Kampfkünste seien mit dem Buddhismus nicht vereinbar, da sie keine meditative Geisteshaltung zuließen und gewalttätig seien. »Hart« wird hier also mit »gewalttätig« gleichgesetzt, und die »Gewalttätigkeit« als der unbeherrschte, schädliche Gemütszustand betrachtet, den der Buddhismus und die Meditation beseitigen wollen.
In Wahrheit wurzeln die harten Kampfkünste jedoch nicht im Zorn oder in blindwütigem, schädlichem Verhalten. Diejenigen, die sich in Kampfkünsten des harten Stils üben, sind beim Training nicht von negativen Gefühlen oder schädlichen Empfindungen beherrscht. Und die müssen sie auch keineswegs haben, wenn sie ihr Können in einer real bedrohlichen Situation anwenden. Im Gegenteil würde das die Anwendung ihrer Fähigkeiten sogar beeinträchtigen. Die Anwendung von Können als Reaktion auf eine Aggression im wirklichen Leben ist keine von Wut gespeiste, desorientierte Handlung, sondern eine distanzierte Antwort darauf, eine kluge, angemessene Handlung, die einer klar definierten Absicht entspringt.
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