Ich sehe die Pferdeköpfe und die Menschengesichter, die ganze endlose Karawane – aufgebrochen kraft meines Willens, im glutroten Abendlicht durch die Steppe ziehend, dem Nirgendwo entgegen – und ich denke: Wo nur bin Ich in diesem Strom?
Dschingis-Khan
Vielerlei Gründe legen es nahe, den wahren Urheber des vorliegenden, Anfang der zwanziger Jahre in einem Kloster der Inneren Mongolei entstandenen Manuskripts zu verschweigen; so erscheint es hier unter dem Namen des Redakteurs, der es für den Druck vorbereitet hat. Getilgt sind gegenüber dem Original die Beschreibungen einiger magischer Prozeduren, ebenso ein beträchtliches Maß Reminiszenzen des Erzählers an sein Leben im vorrevolutionären Petersburg (seine sog. »Petersburger Periode«). Auf die vom Autor gewählte Genrebezeichnung – »Freier Gedankenflug« – wurde verzichtet, da sie allem Anschein nach als Scherz aufzufassen ist.
Die Geschichte, wie sie der Autor erzählt, hat als psychologisches Tagebuch ihren Reiz und ihre unbestreitbaren künstlerischen Qualitäten; mehr will sie überhaupt nicht sein, obschon sich der Autor hie und da der Erörterung von Gegenständen befleißigt, die unserer Ansicht nach keiner Erörterung bedürfen. Eine gewisse Verkrampftheit im Stil läßt sich damit erklären, daß der Autor kein »literarisches Werk« zu schaffen beabsichtigte; vielmehr wollte er mit seinem Text mechanische Bewußtseinszyklen fixieren und sich auf diesem Wege dauerhaft vom sogenannten Innenleben befreien. An zwei oder drei Stellen zieht es der Autor vor, direkt auf den Verstand des Lesers zu setzen, anstatt ihm eines dieser aus Worten zusammengebastelten Phantome vorzugaukeln; leider ist die Aufgabe gar zu simpel, als daß derlei Versuche von Erfolg gekrönt sein könnten. Literaturexperten werden vorliegendes Werk vermutlich wieder nur als ein neues Produkt des in den letzten Jahren in Mode gekommenen kritischen Solipsismus sehen; doch liegt der Wert des Dokuments recht eigentlich darin, daß hier erstmals in der Weltkultur der Versuch unternommen wurde, den alten mongolischen Mythos der Ewigen Nimmerwiederkehr mit künstlerischen Mitteln zu gestalten.
Einige Worte zum Haupthelden des Buches sollen folgen. Besagter Redakteur trug mir vor einiger Zeit ein Tanka des Dichters Puschkin vor:
Doch an das Blutjahr,
Die vielen kühnen Opfer,
Gute und schöne,
Erinnert kein Gesang uns
In weben, süßen Tönen …
In mongolischer Übersetzung klingt die Wendung »kühnes Opfer« seltsam. Dieses Thema zu vertiefen ist hier aber nicht der Ort; lassen wir es bei dem Hinweis bewenden, daß die letzten beiden Tankaverse sich ohne Abstriche auch auf die Geschichte von Wassili Tschapajew beziehen lassen.
Was weiß man heute von diesem Mann? Soweit wir zu urteilen vermögen, hat die Figur im Gedächtnis der Nation rein mythologische Züge angenommen, Tschapajew spielt in der russischen Folklore die allgegenwärtige Rolle eines Nasreddin Hodscha. Um ihn ranken sich zahllose Witze und Anekdoten, allesamt fußend auf einem bekannten Kinofilm der dreißiger Jahre. Darin wird Tschapajew als roter Reiterkommandeur im Kampf gegen die Weißen dargestellt, er führt lange, innige Gespräche mit seinem Adjutanten Petka sowie der Maschinengewehrschützin Anka und ertrinkt am Ende während einer weißgardistischen Attacke in den Fluten des Ural-Flusses. Mit dem Leben des wirklichen Tschapajew hat dies alles nicht das geringste zu tun; zumindest sind die wahren Tatsachen durch Mutmaßungen und Spekulationen bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Der ganzen Verwirrung zugrunde liegt ein Buch mit dem Titel »Tschapajew«, welches zuerst 1923 in einem Pariser Verlag auf französisch erschien und – man beachte! – in Rußland unverzüglich nachgedruckt wurde. Wir ersparen es uns an dieser Stelle, den Nachweis seiner Nichtauthentizität zu führen. Wer will, findet darin mühelos Ungereimtheiten und Widersprüche en masse, und letztlich ist es der Geist des Buches selbst, der bezeugt, daß der Autor bzw. die Autoren keine Ahnung von den Dingen hatten, die sie so fleißig zu beschreiben suchen. Angemerkt sei immerhin, daß Herr Furmanow dem historischen Tschapajew begegnet ist, und zwar mindestens zweimal, besagtes Buch jedoch aus Gründen, die im weiteren ersichtlich werden, gar nicht geschrieben haben kann. Um so verwunderlicher, daß der ihm zugeschriebene Text von vielen bis heute als annähernd dokumentarisch angesehen wird.
Hinter dieser nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert bestehenden Fälschung lassen sich unschwer die rührigen Aktivitäten großzügig finanzierter Kräfte ausmachen, die daran interessiert sind, daß die Wahrheit über Tschapajew den Völkern Eurasiens so lange wie möglich verborgen bleibt. Doch scheint uns schon die Tatsache, daß vorliegendes Manuskript aufgefunden werden konnte, beredt von einem neuen Kräfteverhältnis auf dem Kontinent zu zeugen.
Noch ein letztes. Den Titel des Originaltextes (»Wassili Tschapajew«) haben wir in »Buddhas kleiner Finger« geändert, um Verwechslungen mit jener weitverbreiteten Fälschung aus dem Weg zu gehen. Neben dem von uns gewählten Titel gab es im übrigen noch vier weitere Vorschläge des Redakteurs: »Tschapajew und Pustota«, »Das tönerne Maschinengewehr«, »Die Pfade des sich verzweigenden Gärtners« und »Der schwarze Überzieher«.
Möge dieser Text dem Wohle aller Lebewesen auf Erden dienen.
Gate gate paragate parasamgate bodhi svaha.
Urgan Dschambon Tulku VII.,
Vorsitzender der Buddhistischen Front der
Vollständigen und Endgültigen Befreiung (VEB[B])
Der Twerskoi-Boulevard war beinahe genau so, wie ich ihn vor zwei Jahren zum letztenmal gesehen hatte. Wieder Februar, Schneewehen und eine seltsam ins Tageslicht sickernde Finsternis. Auf den Bänken hockten dieselben reglosen Weiblein wie damals. Oben über dem schwarzen Geflecht der Zweige derselbe graue Himmel – eine alte, verschlissene Matratze, die unter dem Gewicht des schlafenden Gottes bis auf die Erde durchhing.
Einen Unterschied gab es allerdings. In diesem Winter fegte ein Schneesturm durch die Alleen, wie man ihn eigentlich nur aus den Steppen kannte, und wäre ich ein paar Wölfen begegnet, hätte mich das nicht gewundert. Der bronzene Puschkin erschien einem noch eine Spur trauriger als sonst – was wohl daher kam, daß ihm ein rotes Tuch mit der Aufschrift Es lebe der 1. Jahrestag der Revolution vor der Brust hing. Zu ironischen Betrachtungen darüber, daß hier ein Jahrestag zu leben aufgefordert und das Wort »Revolution« noch auf vorrevolutionäre Weise geschrieben war, verspürte ich keine Lust – hatte ich doch in letzter Zeit genug Gelegenheit gehabt, dem Dämonen, der sich hinter all diesem kurzgefaßten Stuß auf rotem Grund verbarg, ins Gesicht zu schauen.
Es dämmerte schon. Das Strastnoi-Kloster war im Schneegestöber kaum zu erkennen. Auf dem Platz davor standen, umwogt von einer Menschenmenge, zwei Lastwagen mit hohem, leuchtend rot bespanntem Verdeck; eine Sprecherstimme schallte herüber, ich verstand so gut wie nichts, doch der Tonfall und das wie ein Maschinengewehr hämmernde »Rrrr« in den Wörtern »Proletariat« und »Terror« ließen keinen Zweifel, worum es ging. Zwei betrunkene Soldaten überholten mich, Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten über den Schultern. Die Soldaten hatten es eilig, auf den Platz zu kommen, doch nach einem dreisten Blick zu mir herüber verlangsamte einer von ihnen den Schritt und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen; zum Glück (seinem und meinem) zerrte ihn der andere am Ärmel, und sie trollten sich.
Ich machte kehrt und lief rasch den Boulevard hinab, dabei grübelte ich, wieso dieses Pack bei meinem Anblick immer mißtrauisch wurde. Gekleidet war ich zugegebenermaßen unvorteilhaft und geschmacklos – ich trug einen schmutzigen englischen Mantel mit breitem Rückengurt, eine Militärmütze à la Alexander II. (natürlich ohne Kokarde) und Offiziersstiefel. An meinem Aufzug allein konnte es allerdings nicht liegen. Ringsum gab es genügend Leute, die weit wunderlicher aussahen als ich. Zum Beispiel hatte ich auf dem Twerskoi einen von allen guten Geistern verlassenen Herrn mit goldener Brille gesehen, der, eine Ikone vor sich her tragend, auf den düsteren, menschenleeren Kreml zustrebte – niemand schenkte ihm Beachtung. Ich hingegen zog in einem fort schräge Blicke auf mich, und jedesmal fiel mir ein, daß ich weder Geld noch Papiere besaß. Tags zuvor hatte ich mir auf dem Bahnhofsklosett eine rote Schleife an die Brust geheftet, doch sogleich wieder entfernt, als ich mich damit im gesprungenen Spiegel sah; mit der Schleife wirkte ich nicht nur bescheuert, sondern doppelt verdächtig.
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