Möglich außerdem, daß in Wahrheit keiner seinen Blick länger auf mir ruhen ließ als auf irgendeinem anderen; meine angespannten Nerven und die Angst vor der Verhaftung mochten schuld sein. Nicht, daß ich den Tod fürchtete. Vielleicht war er ja bereits eingetreten, so mein Gedanke, und dieser vereiste Boulevard, den ich entlangging, war der Vorhof zum Schattenreich. Sowieso hatte ich schon früher die Idee gehabt, daß die russischen Seelen den Styx wohl überqueren müssen, wenn er zugefroren ist, und die Münze bekommt nicht der Fährmann, sondern irgendein Herr in Grau, der einen Schlittschuhverleih betreibt (freilich von gleicher Mentalität).
In welcher Ausführlichkeit ich diese Szene plötzlich vor mir sah! Graf Tolstoi im schwarzen Trikot zog, weit die Arme schwingend, übers Eis, dem fernen Horizont entgegen; seine Bewegungen waren langsam und gravitätisch, doch lief er so geschwind, daß das dreiköpfige Hundevieh, das hinter ihm her war mit lautlosem Gebell, ihn nicht zu fassen vermochte. Ein strahlender Sonnenuntergang vollendete das Bild, in schmachtendem Rotgold, nicht von dieser Welt. Ich lachte in mich hinein. Im selben Moment fiel eine Hand auf meine Schulter.
Ich tat einen Schritt zur Seite, fuhr herum, während meine Finger in der Manteltasche nach dem Knauf des Revolvers suchten, und war verblüfft: Vor mir stand Grigori von Ernen – ein Freund aus Kindertagen. Doch wie sah er aus! Von Kopf bis Fuß in schwarzem Leder, das Pistolenhalfter an der Hüfte baumelnd, eine absurde Art Hebammenköfferchen in der Hand.
»Schön, daß du noch was zu lachen hast«, sagte er.
»Tag, Grigori«, erwiderte ich. »Komisch, dich zu sehen.«
»Wieso denn?«
»Nur so. Halt komisch.«
»Woher und wohin?« fragte er in munterem Ton.
»Ich komme grad aus Petersburg«, sagte ich. »Und wohin, das tät ich selber gern wissen.«
»Dann erst mal zu mir«, sagte Grigori. »Ich wohne um die Ecke, hab die ganze Wohnung für mich allein.«
Wir liefen ein Stück den Boulevard hinab, dabei musterten wir einander, grienten uns an und redeten sinnlos daher. Seit unserem letzten Zusammentreffen hatte Grigori von Ernen sich einen Bart stehen lassen, weshalb sein Gesicht einer gekeimten Zwiebel ähnelte; die Wangen waren rauh und gerötet, man konnte meinen, er hätte sich mehrere Winter in Folge auf Schlittschuhen gesund gelaufen.
Wir waren ans selbe Gymnasium gegangen, hatten uns danach aber nur noch selten gesehen. Ein paarmal traf ich ihn in den Petersburger literarischen Salons; er schrieb Gedichte, die ein bißchen nach Nekrassow klangen und ein bißchen nach Nadson – als dieser an Marx glaubte und jener der Sodomie frönte. Gestört hatte mich von Ernens Art, im Beisein anderer Kokain zu schnüffeln, und daß er beständig auf seine Verbindungen zu sozialdemokratischen Kreisen anspielte. Mit letzterem hatte er, so wie er jetzt aussah, wohl nicht gelogen. Es war aufschlußreich, an einem Mann, den man seinerzeit mit Vorliebe vom mystischen Sinn der Hl. Dreifaltigkeit hatte reden hören, Zeichen zu gewahren, die seine Zugehörigkeit zu den Heerscharen der Finsternis erkennen ließen. Doch kam ein solcher Wandel natürlich nicht überraschend. Etliche Dekadente vom Schlage eines Majakowski hatten den offen satanischen Charakter der neuen Macht gewittert und sich ihr darum unverzüglich angedient. Wobei ich allerdings glaube, daß kein eingefleischter Satanismus sie dazu trieb (dafür waren sie viel zu infantil), sondern ihr ästhetischer Instinkt: Das rote Pentagramm paßte prächtig zu Majakowskis gelbem Jäckchen.
»Wie sieht's aus in Petersburg?« fragte Grigori.
»Als ob du das nicht selber wüßtest«, sagte ich.
»Stimmt«, versetzte Grigori gleichmütig. »Das weiß ich selber.«
Wir bogen vom Boulevard ab, überquerten eine gepflasterte Straße und standen gleich darauf vor einem respektablen siebenstöckigen Wohnhaus, direkt gegenüber dem »Palace«-Hotel, vor dessen Eingang zwei Maschinengewehre, rauchende Matrosen und ein langer Pfahl mit knatternder roter Muleta standen. Von Ernen zupfte mich am Ärmel.
»Sieh mal«, meinte er.
Ich drehte den Kopf. Auf dem Pflaster vor dem Hauseingang stand ein langes, schwarzes Automobil mit offener Fahrerbank und gestutzter Kabine. Die Vordersitze waren vom Schnee ordentlich zugeweht.
»Und?«
»Das ist meiner«, sagte Grigori. »Mein Dienstwagen.«
»Aha«, sagte ich. »Gratuliere.«
Wir traten ins Haus. Der Fahrstuhl funktionierte nicht, wir mußten die düstere Treppe benutzen, von der sie den Läufer noch nicht weggerissen hatten.
»Was treibst du so?« fragte ich.
»Oh«, sagte Grigori, »wie soll ich das so schnell erklären. Viel Arbeit, zuviel sogar. Das geht zack, zack, zack, man kommt kaum hinterher. Mal hier, mal da. Jemand muß es ja machen.«
»Auf dem Kultursektor, oder wie?«
Er neigte irgendwie unbestimmt den Kopf zur Seite. Ich fragte lieber nicht weiter.
Im vierten Stock angekommen, näherten wir uns einer hohen Tür, auf der sich deutlich das helle Viereck des abgerissenen Namensschilds abhob. Die Tür ging auf, wir traten in einen dunklen Flur, und augenblicklich schellte das Wandtelefon. Grigori nahm ab.
»Jawohl, Genosse Babajasin«, brüllte er in die schwarze Ebonitmuschel. »Ja, ich weiß, den brauchen Sie nicht extra … Genosse Babajasin, das kann ich nicht, das ist doch lächer… Stellen Sie sich vor, wie peinlich das … noch dazu mit den Matrosen. Was? Zu Befehl, aber ich protestiere entschieden. Was?«
Er schielte zu mir herüber, und um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen, ging ich ins Wohnzimmer.
Der Boden lag dort voller Zeitungen, von denen die meisten längst verboten waren – hier gab es anscheinend noch ganze Jahrgänge. Auch andere Spuren früheren Lebens waren zu besichtigen. An der Wand hing ein prachtvoller türkischer Teppich, darunter stand ein Sekretär mit verschiedenfarbigen Emaillerhomben – bei seinem Anblick war mir sofort klar, daß eine wohlhabende Familie aus Kreisen der Konstitutionellen Demokratie hier gewohnt haben mußte. An der gegenüberliegenden Wand gab es einen großen Spiegel, daneben hing ein Kruzifix im Jugendstil. Ich hielt mich kurz bei der Frage auf, welcherart religiöses Gefühl dazu wohl passen mochte. Viel Raum nahm ein riesiges Bett mit gelbem Baldachin ein. Was auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers beieinanderstand, erschien mir – vielleicht der Nachbarschaft zum Kruzifix wegen – wie ein christlich-esoterisch angehauchtes Stilleben: eine Literflasche Wodka, eine Dose türkischer Honig in Herzform, ein ins Nichts führendes Treppchen aus drei übereinanderliegenden Stücken Schwarzbrot, drei geschliffene Trinkgläser und ein kreuzförmiger Dosenöffner.
Beim Spiegel lagen mehrere Bündel auf dem Boden, die nach Schmugglerware aussahen; im Zimmer roch es säuerlich, nach Fußlappen und Schnaps, etliche leere Flaschen standen herum. Ich setzte mich an den Tisch.
Bald darauf knarrte die Tür, und Grigori trat ein. Er legte die Lederjacke ab; das Hemd darunter wirkte betont soldatisch.
»Der Teufel weiß, was die wollen«, sagte er, während er sich setzte. »Ein Anruf von der Tscheka.«
»Arbeitest du für die?«
»So wenig wie möglich.«
»Wie bist du überhaupt in diese Gesellschaft geraten?«
Grigori von Ernen grinste breit.
»Nichts leichter als das. Ein Fünfminutengespräch mit Gorki am Telefon, das war alles.«
»Und die Mauser und das Auto haben sie gleich mitgeliefert?«
»Ach, weißt du«, sagte er, »das Leben ist bekanntlich ein Theater. Wovon aber viel seltener die Rede ist: An diesem Theater wird jeden Tag ein neues Stück gespielt. Und ich stell da jetzt eine Inszenierung auf die Beine, Pjotr, ich kann dir sagen.«
Er hob die Hände über den Kopf und schüttelte sie, als müßte er die Münzen in einem unsichtbaren Beutel zum Klingen bringen.
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