»Bitte, setzen Sie sich«, sagte sie, außerstande, sich zu einem Lächeln zu zwingen, und dann, als er auf dem weiß gestrichenen Stuhl Platz genommen hatte, fügte sie hinzu: »Habe ich Sie nicht schon irgendwo gesehen?«
»Natürlich, Mama«, erklärte Evelyn rasch, »Hans war mit am Flugplatz, als wir ankamen. Der Unteroffizier, du weißt doch.« »Ach so«, sagte Magdalene nur und wandte den Blick ab, um den Jungen nicht in Verlegenheit zu bringen.
»Aber das ist nicht wie früher, Mama«, sagte Evelyn eifrig, »er kann noch Offizier werden. Mit Sonderlehrgängen. Nicht wahr, Hans?«
»Vielleicht gestattest du Herrn Hilgert erst einmal etwas zu sich zu nehmen, Evelyn«, sagte Magdalene bemüht, das Gespräch auf einen normalen Unterhaltungston zu bringen.
»Möchten Sie sich etwas bestellen? Vielleicht ein Eis?«
»Dann nehme ich auch noch eines«, sagte Evelyn.
»Lieber nicht, Evi«, sagte Hans Hilgert, und war das erste Mal, dass er in diesem Beisammensein zum Sprechen kam, »es ist schon zu kühl zum Eisessen. Du siehst ganz verfroren aus.«
Obwohl sie versuchte, sich dagegen zu wehren, nahm diese Fürsorge Magdalene für den jungen Mann ein. Sie spürte instinktiv, dass an der Ehrlichkeit seiner Gefühle für Evelyn nicht zu zweifeln war.
»Dann einen Kognak«, sagte Evelyn. Magdalene stimmte zu. »Ich glaube, ein Kognak wird uns allen dreien gut tun.« Sie winkte einem der Ober, bestellte, bat gleichzeitig um die Rechnung.
Sie wandte sich an Hans Hilgert. »Sie sind Flieger?«
»Ja. Ich bin als Pilot ausgebildet. Natürlich würde ich alles versuchen, mich zum Bodenpersonal versetzen zu lassen. Ich weiß, dass Evi keine Aufregung vertragen kann, obwohl …«, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu, »Fliegen heutzutage nicht mehr gefährlicher ist als Auto fahren.«
Magdalene erstarrte. So weit waren die beiden also schon! Sie schienen sich ganz feste Pläne für ihre Zukunft gemacht zu haben.
Hans Hilgert erriet ihre Gedanken. »Ich bin sehr froh, dass Sie mir Gelegenheit geben, mit Ihnen zu sprechen, gnädige Frau«, sagte er. »Es ist wahr, Evi und ich möchten heiraten. Bitte, denken Sie jetzt nicht, ich sei unverschämt …«
Magdalenes Mund war trocken. »Wie alt sind Sie?« fragte sie, und ihre Stimme klang ungewohnt rau.
»Einundzwanzig.«
»Evelyn ist siebzehn. Finden Sie nicht, dass Sie beide für Heiratspläne noch reichlich jung sind?«
»Nein«, erwiderte er ruhig.
»Sie wissen vielleicht nicht, wie verwöhnt meine Tochter ist.« Hans Hilgert zog die kräftigen Augenbrauen zusammen. »Natürlich kann ich ihr das nicht bieten, was sie gewohnt ist. Wir haben darüber gesprochen. Aber ich glaube nicht – und Evi glaubt es auch nicht –, dass das Glück durch Luxus erkauft werden kann.«
»Von Luxus hat hier niemand gesprochen«, sagte Magdalene gereizt.
»Entschuldigen Sie. Vielleicht habe ich dieses Wort falsch gewählt. Aber Evi sagte mir, dass Sie ein Vermögen mit in die Ehe gebracht haben, und Oberst Rott hat eine Position, wie ich sie sicher nie erreichen werde. Ich meinte nur das, sonst nichts.«
»Und was könnten Sie meiner Tochter bieten?«
»Aber Mama«, sagte Evelyn, »du redest so altmodische Dinge. Natürlich verdient Hans genug, um eine Frau zu ernähren. Und eine Wohnung könnt ihr uns wirklich kaufen. Das wäre doch nicht zu viel verlangt. Außerdem habe noch den Schmuck von Großmutter.«
»Du vergisst, dass du ohne unsere Einwilligung gar nichts unternehmen kannst.«
»Das habe ich keinen Augenblick vergessen«, sagte Evelyn und sah ihre Mutter mit flammenden Augen an, »sonst würde ich nämlich gar nicht mit dir diskutieren. Du verlangst dauernd, dass wir unsere Pläne verteidigen sollen. Nenn mir nur einen einzigen vernünftigen Grund, warum ich Hans nicht heiraten soll.«
»Weil du noch zu jung bist. Viel zu jung, um zu wissen, wo dein wahres Glück liegt.«
»Du irrst dich. Ich habe es dir und Papa zu verdanken, dass ich keineswegs weltfremd erzogen worden bin. Ich habe niemals Scheuklappen vor den Augen gehabt. Ich habe viele Liebesgeschichten mit angesehen, die unglücklich ausgegangen sind und viele unglückliche Ehen. Aber niemals ist das Geld daran schuld gewesen.«
Der Kellner brachte ein Tablett mit den Kognaks, Magdalene bezahlte. Sie tranken alle drei, ohne sich anzusehen.
»Ich verlange gar nicht, dass du auf deine Liebe verzichtest«, sagte Magdalene, »ich möchte nur, dass du dich prüfst. Ich habe dir vorgeschlagen, mit mir zusammen auf ein paar Monate zu verreisen.«
»Aber ich will nicht!« rief Evelyn. »Meinst du, ich durchschaue nicht, was du vorhast? Erst fährst du mit mir fort. Irgendwohin, vielleicht an die Riviera. Dort versuchst du mich abzulenken, damit ich Hans vergesse. Wenn du siehst, dass dir das nicht gelingt, ziehst du den Aufenthalt hinaus. Und dann, plötzlich kommt ein Telegramm von Papa, dass er sich wieder zum Außenministerium hat versetzen lassen, und dass wir uns alle im Kongo oder in Oslo oder was weiß ich wo treffen sollen.«
»Aber wenn ich dir schwöre, dass ich an nichts dergleichen gedacht habe …«
»O doch. Das hast du. Dir hat es ja vom ersten Augenblick an in Deutschland nicht gefallen. Du bearbeitest Papa dauernd, sich doch wieder versetzen zu lassen.«
»Doch nicht deinetwegen, Kind!«
»Die Wirkung ist für mich dieselbe. Du hast bei Papa immer durchgesetzt, was du wolltest. Aber diesmal wehre ich mich. Es geht um mein Glück, Mama, und das werde ich mit allen Kräften verteidigen.«
Nach diesem Gespräch verbrachte Magdalene eine schlaflose Nacht. Sie lauschte auf die ruhigen Atemzüge ihres Gatten und starrte in die Dunkelheit Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so verlassen gefühlt. – Aber nein, das stimmte nicht. Damals, als Jan Mirsky sich von ihr abgewandt hatte, als er sie mit jenem zynischen Lächeln hatte fallen lassen, das sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen würde, war alles noch viel schlimmer gewesen.
Sollte sie nicht glücklich sein, dass eine solche Erfahrung Evelyn sicher erspart bleiben würde? Evelyn war jung – aber war sie wirklich zu jung? Singh Ree hatte ihr versichert, dass das Leben ihrer Tochter unter einem Glücksstern stand, der alle Fährnisse immer wieder zum Guten wenden würde. Auch Hans Hilgert war jung. Er gehörte nicht in ihre Kreise, er war mittellos, aber er wirkte verlässlich. An seiner Liebe zu Evelyn bestand kein Zweifel.
Warum wagte sie nicht, dem Schicksal zu vertrauen?
Sie war nahe daran, ihren Mann zu wecken und über alles mit ihm zu sprechen. Aber dann überlegte sie es sich anders. Es hatte keinen Zweck, bevor sie selbst keinen festen Standpunkt hatte. Erst musste sie Erkundigungen über den jungen Mann einziehen.
Aber sie wusste nicht, wie sie das anfangen sollte, ohne jemand ins Vertrauen zu ziehen.
Helga Gärtner? Lieber nicht, sie wusste schon viel zu viel.
Das einfachste Mittel würde sein, Hans Hilgerts Mutter aufzusuchen. Er hatte erzählt, dass sie Kriegerwitwe sei und eine Schneiderei leitete. Mit ihr musste sie sich in Verbindung setzen. Vielleicht, wenn sie Hans Hilgerts genaue Geburtsstunde erfuhr …
Mit diesem Vorsatz schlief sie ein. Draußen graute schon der Morgen.
Frau Hanna Hilgert wohnte in Köln-Nippes, wie Magdalene Rott aus dem Telefonbuch erfuhr.
Sie machte sich gleich am nächsten Morgen auf den Weg, ohne ihren Mann oder Evelyn von ihrem Vorhaben zu verständigen. Das sehr moderne Haus mit einer kahlen, nichtssagenden Fassade stand an einem quadratischen Platz. Im Milchglas der Parterrefenster stand mit großen Buchstaben, unterbrochen durch Fensterkreuze und Leisten: »Schneiderei Hanna Hilgert.«
Magdalene stieg aus, entlohnte den Fahrer und bat ihn zu warten. Sie schritt auf das Haus zu und klingelte. Befriedigt fühlte sie, dass jetzt, da sich die Entscheidung näherte, alle Erregung von ihr gewichen war.
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