„Verzeihen Sie, Herr von Buchfeld, würden Sie momentan in der Lage sein, eine wichtige Unterredung zu gewähren?“
„Ihnen?“
„Nein — eine Dame wartet in meinem Zimmer; ich teile Ihnen zuvor das Nähere mit.“
„O Zeit, du selbst entwirre dies, nicht ich,
Ein zu verschlungener Knoten ist’s für mich!“
König Heinrich II. V Aufz. I. Sz. Shakespeare.
Eine Dame?!“
Wie von einem Schlage getroffen, zuckte Aurel aus seiner Regungslosigkeit empor. „Eine Dame?“ fragte er leise, und er trat dem Sprecher einen Schritt näher und sah ihn dabei mit den unheimlich aufglühendem Blick und so grell blinkenden Zähnen an, dass der Adjutant ganz betroffen einen Schritt zurück wich.
„Allerdings ...“ stotterte er, „aber ich bitte Sie von vornherein, sehr verehrter Herr von Buchfeld, keine falschen Schlüsse zu ziehen! Die Legationsrätin, Gräfin Judith Vare, erwartet Sie in meinem Zimmer, Ihnen in jeder Weise Hilfe und Unterstützung anzubieten und Ihnen als erste Dame der Gesellschaft ihr Beileid auszusprechen!“
Buchfeld stützte sich schwer auf den eichenen Tisch, er sah erschreckend bleich aus. „Aus welchem Grunde? Stand mein Bruder der Gräfin und ihrer Familie näher wie andern Persönlichkeiten der Residenz?“
„In gewisser Beziehung, ja! Die Gräfin hat sich stets voll wärmsten Interesses Ihres Herrn Bruders angenommen, und weil General von Dahlen, Ihr Herr Onkel, den jungen Mann ihrer besonderen Fürsorge empfohlen, so hat die ebenso einflussreiche wie tonangebende Frau ihn bereits als Fähnrich in die Gesellschaft eingeführt.“
„Ah! — Gräfin Vare also! Ich habe es nie begreifen können, dass man Ortwin gegenüber eine so seltene Ausnahme machte, und glaubte, er habe es dem Onkel allein zu verdanken.“ Der Blick des Sprechers ruhte sekundenlang auf der Bahre, dann flüsterte er noch leiser denn zuvor, als wolle er den stillen Schläfer nicht durch diese Frage stören. „Wer ist Gräfin Vare? Ich bin völlig fremd in den hiesigen Hofkreisen und möchte etwas unterrichtet sein, ehe ich der Dame entgegentrete.“ Mit einem leichten Wink der Hand schritt er dem Kameraden voran in das Nebenzimmer und setzte den Schellenzug in Bewegung, den Burschen des Verewigten herbeizurufen. Es lag etwas ganz Absonderliches in seinem Wesen, etwas Raubtierartiges, Forschendes und Lauerndes, als gälte es ein Wild zu beschleichen.
Der Adjutant schien eilig. „Gräfin Vare lebt als Witwe des ehemaligen holländischen Legationsrats gleichen Namens hierselbst, weil sie vor ihrer Verheiratung die Stelle einer Hofdame bei der hochseligen Grossherzogin bekleidete. Darf ich Sie wohl bitten mir zu folgen — ich möchte die Gnädigste nicht allzulange warten lassen —“
Aurel regte sich nicht, er stand vor ihm, wie ein Bild von Stein. „Sie nannten die Gräfin einflussreich und tonangebend?“ fragte er mit klangloser Stimme, „ist sie jung — schön und reich?“
„Letzteres wohl in hohem Masse, denn sie macht eines der ersten Häuser hier; ob schön? das ist Geschmacksache, man findet sie mehr geistreich und interessant, und jung? Mon Dieu, Verehrtester, das ist eine heikle Frage, eine Frau ist stets so alt, wie sie aussieht und Gräfin Vare ist eine Sphinx, deren Rätselaugen Jahr für Jahr unverändert in die Welt blicken! Ausserdem ist sie —“
„Hat sie Kinder?“ fragte Buchfeld kurz und schroff dazwischen.
„Nein; die würden auch in ihrem Hause nicht am Platze sein. Die Gräfin ist mehr Diplomat und Staatsmann als Weib. Man nennt sie die Vertraute und Ratgeberin des Grossherzogs, seine rechte Hand in allen, selbst den wichtigsten Angelegenheiten!“ Herr von Parlow trat vertraulich näher und fuhr eifrig fort: „Haben Sie denn nicht die Skandale in allen Zeitungen gelesen, welche in letzter Zeit den Namen der Gräfin so vielfach in Verbindung mit Königlicher Hoheit nannten? Nein?! Unfasslich! Alle Welt ist voll davon! Es erschienen in ausländischen Zeitungen unerhört indiskrete Artikel, welche die Verhältnisse unserer Residenz, militärische, ministerielle und gesellschaftliche, in geradezu unbegreiflich gut unterrichteter Weise beleuchteten! Aber darüber später, ich beschwöre Sie, mir jetzt zu folgen. Sie sind jetzt für kurze Zeit vertreten, und wenn Sie gestatten, kehre ich während der Dauer Ihrer Unterredung an die Bahre des Verewigten zurück!“
Aurel nickte schweigend, wie in tiefem Traum, vor sich hin, ein Aufglühen ging durch sein Auge, er hob entschlossen das Haupt. „Gehen wir!“ stiess er durch die Zähne hervor.
Vor dem Zimmer des Adjutanten stand er plötzlich still und legte die Hand über die Augen. „Ich ersuche Sie um eine Gefälligkeit, Herr Kamerad. Treten Sie vorerst ohne mich ein und melden Sie der Gräfin mein Kommen, dann erst benachrichtigen Sie mich; ich — ich möchte der Dame gern allein gegenübertreten!“
Parlow blickte den Sprecher frappiert an. Er begriff diesen absonderlichen Wunsch nicht recht, aber er schrieb ihn der momentanen, so sehr hohen Erregung des Bedauernswerten zu, und nach prüfendem Blick in die etwas verstörten Züge, aus welchen die Augen jedoch völlig klar und zurechnungsfähig schauten, trat er mit zustimmendem Gruss nach der Thür.
Noch einmal hielt ihn Aurel zurück. Seine Stimme klang heiser. „Führt diese Nebenthüre zu Ihrem Schlafzimmer, Herr von Parlow?“
„Allerdings ...“
„Ich bin Ihnen eilig gefolgt, die Erregungen der letzten Stunden haben vielleicht Spuren hinterlassen, Sie gestatten noch einen Blick in den Spiegel?“
Wunderlich! Auf ein derartiges Verlangen hätte der Adjutant den Kameraden in diesem Augenblick am wenigsten taxiert; er begriff nicht, wie ein Mensch inmitten eines solch grossen Seelenschmerzes an derartige Äusserlichkeiten denken konnte, da es aber gar penible Leute gibt, die in keiner Lebenslage die Form verletzen, und es ihm ohnehin natürlich schien, dass man einer Gräfin Vare gegenüber ganz besondere Umstände mache, so riss er voll liebenswürdiger Hast die Thür auf, entzündete schnell ein Licht und flüsterte: „In fünf Minuten hole ich Sie ab!“ Im nächsten Moment war er auf demselben Weg, wie er gekommen, verschwunden.
Der Spiegel stand vor Buchfeld, aber der Premierleutnant würdigte ihn keines Blickes. Sein Auge überflog das Zimmer. Richtig, eine Seitenthür, welche in das Gemach führt, in welchem Gräfin Vare auf ihn wartet. Er hört, wie sie mit Parlow spricht, eine weiche, tiefklingende Stimme, voll, wie eine Glocke.
Eine Totenglocke, welche Ortwins Lebensglück zu Grabe geläutet! Aurel presst mit hasszitternden Lippen die Hände gegen die Schläfen. Wehe jenem Weib, wenn sie es ist, die er sucht! Ihn soll keine Maske täuschen, er wird sie ihr von dem Antlitz reissen, ehe sie es ahnt. Und Rache wird er an ihr nehmen, Rache für den Bruder, den sie in den Tod getrieben, und Rache für ihn selbst, den sie durch solch ein Sterben zum haltlosen, wüsten Gesellen gemacht! Aurel fühlt es, an der Bahre droben hat ein Dämon gestanden, der schlug ihm giftige Krallen in das Herz. Er hat ihm die Waffe noch rechtzeitig aus der Hand genommen und ihn erinnert, dass er noch eine Mission auf Erden zu erfüllen habe: Rache! Rache an einem Weib! Wie ein fernes, fernes Echo hallt eine Knabenstimme durch seine Gedanken, die einst voll jubelnder Begeisterung des Ahnherrn Devise wiederholt: „Bin ich ein Schandbub, dass ich ein Weib verrate?!“
So sprach ein Dahlen. Aber Aurel ist ein Buchfeld, und die Traditionen seiner Familie sind ein wildes, rachelustiges Bekämpfen und Rächen. Ein ungefüges und trutzig rohes Geschlecht sind seine Vorväter gewesen, und ihr später Nachkomme fühlt es in diesem Augenblick, dass auch durch seine Adern das zügellose, leicht gereizte Blut der Ahnen rollt. Es hat sich lang genug verleugnet, nun aber schäumt’s empor, wie der Gebirgsbach, den Wetterfluten unter Donner und Blitz geschwellt haben.
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