Eine freudlose, liebearme und öde Kindheit und Jugend lagen hinter dem jungen Offizier. Wie graue Schattenbilder ziehen die fernen, längst vergangenen Tage in der Erinnerung an ihm vorüber, als er auf der Totenbahre neben seinem Liebling sitzt, dessen schauerlich kalte Hand nicht wieder erwarmen will. Die Frauengestalten, welche bisher seinen Lebensweg gekreuzt, sind die Schatten, welche düster und unheilvoll darauf gefallen. Seine erste Erinnerung ist eine mürrische alte Frau, welche ihn schlug und schalt, gleichviel ob er artig gewesen oder sie erzürnt hatte. Sie war immer erzürnt und zankte sich mit den andern Mägden, dass dem lauschenden Kind das Herz erzitterte vor Furcht und Entsetzen. Diese Frau mit der mitleidslos harten, stets strafenden und niemals liebkosenden Hand hatte er lange Zeit für seine Mutter gehalten, und er that es darum, weil in den gräulichen Märchen, welche ihm die rothaarige Kammerjungfer erzählte, um ihn in fieberhafte Träume zu ängstigen, die Stiefmütter ihre Kinder hungern und frieren liessen, sie prügelten und schlachteten. — Er hungerte und fror oft, wenn er ungeschickt war und seine Milchtasse umwarf, oder wenn seine verwahrloste Kleidung ihm von dem Körperchen fiel, aber er fürchtete sich vor den zornigen Augen der alten Mutter und schwieg.
Sie war aber nicht seine Mutter. Eines Tages sagte man ihm: „Heute kommt die Mama von den Reisen zurück, sie war weit, weit fort, zwei Jahre lang in einem Land, wo es keinen Winter giebt.“
„Warum war sie fort?“ flüsterte er mit hochklopfendem kleinen Herzen, und die Freude, dass die garstige, böse Christiane nicht seine Mutter war, trieb ihm alles Blut in die hageren, blassen Wänglein.
„Weil sie sich in Italien als Witwe besser amüsieren konnte!“ brummte die Wärterin mit hässlichem Grinsen, und dann zog sie ihm sehr schöne Kleidchen an und sagte: „Wenn dich die Mama fragt, ob wir alle gut zu dir waren, dir immer schönes Essen und Spielzeug gaben, dann sagst du: ja! Hörst du? Sonst schlage ich dich in der Nacht, wenn wir allein sind!“
Eisiger Schauder ging durch des Kindes Körperchen, aber er vergass seine Angst in der freudigen Erwartung seiner Mama. Gehorchen aber wollte er der Christiane — sonst hätte sie ihn ja umgebracht wie die böse Hexe das arme Hänsel und Gretel! — Ach, was hätte er darum gegeben, wenn er diese beiden aus dem Zauberhäuschen hätte erretten können, aber Christiane erzählte gar schauerlich von ihrem Tod.
Seine Mutter kam. — Wie war sie so schön, als sie sich über ihn neigte und ihn küsste! Sein Herzchen zitterte vor Entzücken, und er breitete ihr mit lautem Jubel die Arme entgegen und jauchzte: „Mama!“
„Pfui, was hast du für schmutzige Hände!“ Und die schöne Mama mit den langen Lockenhaaren und dem rosigen Gesicht stiess ihn voll Entrüstung zurück. „Nicht einmal gewaschen ist das Kind, Frau Roland! Das ist ja empörend — ich werde Sie aus meinem Dienst entlassen! Gehen Sie und kommen Sie mir mit Aurel nicht eher wieder unter die Augen, als bis der kleine Schelm salonfähig ist!“
Wie böse und schrill ihre Stimme klang! Aber Christiane machte wunderbarerweise ein sehr gutes Gesicht und bat um Vergebung: „Das Kind sei so schrecklich wild und ungezogen, kaum frisch angekleidet, beschmutze es sich sofort.“ — Und dann ging sie mit ihm.
Als sie allein waren, schlug sie ihn. Und er weinte bittere, bittere Thränen.
„Sie ist genau noch derselbe bitterböse Teufel, wie vormals!“ tobte die Kammerjungfer, als sie nach kurzer Zeit mit dunkelrotem Kopf hereingestampft kam, und dann sagten die beiden Frauen viel böse Dinge über seine schöne Mama. — Er ballte trotzig die kleinen Hände und nahm sich vor, ihr alles wiederzusagen, sowie er sie wiedersehen würde. Aber er sah sie lange nicht, und als er zu ihr geführt wurde, stand sie vor dem Spiegel und hatte ein goldenes Kleid an wie die Fee im Märchenbuch. Sie nickte ihm zu und strich flüchtig mit der Hand über sein Köpfchen; sie wollte auch zu ihm sprechen, der Diener aber brachte gerade einen grossen Blumenstrauss und einen Brief. Da musste die Mama lesen und viel lachen, und Aurel stand vergessen in der Ecke und wagte kaum zu atmen. Aber er wartete voll Sehnsucht, dass sie ihn küssen möchte — er hätte gar zu gern einmal das wunderschöne Kleid gestreichelt — aber die Mama liess sich schnell den Mantel umgeben, schalt die Jungfer über dies und jenes und rauschte durch die Thür. Ihren kleinen Knaben hatte sie ganz und gar vergessen. Thränen traten in die Kinderaugen, und das strahlende Bild seiner Mutter erblich unter ihrem bitteren Tau.
Seine Mama! War sie es wirklich?
Es giebt wohl keinen grösseren Philosophen, als wie ein Kindesherz, keinen Philosophen der Gelehrsamkeit, sondern einen des Gefühls. Aurel war noch ein Kind, aber er fühlte und empfand es, dass seine Mutter unrecht gegen ihn handelte, er wusste, dass er grausam von ihr vernachlässigt wurde, und dass dies eine Schuld war. Sein junges, weiches Herzchen sehnte sich so instinktiv nach mütterlicher Liebe, wie eine zarte Schlingpflanze sich anklammert an den Stamm, welchen die Natur zur Stütze neben ihr erwachsen liess — sie schmiegt sich an ihn, unbewusst solchen Thuns, und sie verkümmert, wenn rauhe Stürme sie abreissen und zu Boden werfen.
Den ganzen Tag über freute sich Aurel auf den Augenblick, wo er seine schöne, strahlend gekleidete Mama sehen durfte, und wenn er ihr schüchtern entgegentrat, wehte es ihm wie Schneeluft aus den glänzenden Atlasfalten entgegen, zog ein Frösteln durch Mark und Bein, wenn sie ihn mit den meist sehr ärgerlich blickenden Augen einen Moment ansah, als wolle sie sagen: „Mon dieu, auch das noch! Ich bin eilig genug!“ Und sie griff hastig in eine Bonbonniere und warf ihm eine Hand voll Konfekt auf den nächsten Sessel. „Komm und iss, Baby, aber sei artig und störe mich nicht!“
Seine Kehle war wie zugeschnürt, er konnte nicht essen, er stand und sah auf seine Mutter, seine oft so böse, masslos heftige Mutter.
Er war so allein, immer so allein, und sein Herz krampfte sich zusammen und ward hart und erbittert.
Immer älter ward er, und je sehender seine Augen wurden, desto finsterer blickten sie darein. Da lernte er den Leichtsinn der schönen, modernen Weiber kennen, und wenn er eine Zeitlang an den Portieren der strahlend erleuchteten Salons gestanden, die frivolen Worte gehört hatte, mit welchen seine Mutter sich selber die Achtung ihres Sohnes nahm, dann biss er die Zähne zusammen und schritt in sein stilles Stübchen zurück, bei den Lehrbüchern zu vergessen, dass Lieb und Treue nur uraltmodische Märchen seien! Und dann kam eine Zeit, wo es die schöne Witwe amüsierte, sich ihren heranwachsenden Sohn zum ersten Verehrer heranzubilden. Sie sprach mit ihm über ihre Verlobung, ihre Ehe mit seinem Vater und lehnte sich lachend in den Sessel zurück, zerpflückte die Rose mit graziösen Händchen und versicherte ihm in einer Weise, in welcher man wohl sonst über das Wetter spricht, dass sie den Verstorbenen nie geliebt!
Da knirschten des Knaben Zähne, und er liebte seinen armen, betrogenen Vater, von welchem er nie zuvor gehört; zwischen ihn und die Sprecherin aber riss sich eine Kluft, welche breiter und breiter ward, so breit, dass sie nichts auf der Welt überbrücken konnte! Ja, sein Vater war gestorben, während sein schönes Weib auf dem Maskenball als Odaliske Triumphe feierte, und doch hatten ihr die Ärzte gesagt, es gehe in dieser Nacht zu Ende.
Und als Aurel zwischen Tod und Leben im Fieber lag, liess ihn die Mutter in ein Krankenhaus bringen und reiste der eignen Erholung wegen nach Ostende. Ihr mürrischer, pedantischer und unliebenswürdiger Sohn war ihr von Tag zu Tag unsympathischer geworden. Allein und verlassen in den Händen liebloser Pflegerinnen lag er, und die Thränen bitterer, herber Resignation rollten über seine bleichen Wangen. Er liebte niemand und ward von niemand geliebt. „Und wenn die Welt voll Teufel wär’!“
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