1 ...6 7 8 10 11 12 ...31 »Was?«
Die Neugier Karlsens kippte allmählich in Verärgerung um.
»Woran ich denke«, sagte Moe und atmete den Rauch durch die Nase aus, »ist, dass wir mit Hilfe der Stiefel vielleicht den Leichnam identifizieren können. Manche Menschen schreiben ja ihre Initialen in die Innenseite ihrer Stiefel, um Verwechslungen zu vermeiden, insbesondere, wenn man sich in einem Milieu bewegt, in dem viele das gleiche Schuhwerk tragen. Zum Beispiel an Bord größerer Fischtrawler.«
»Vielleicht waren sie auch Arbeitskollegen, und der Mann hatte sich die Stiefel von demjenigen geliehen, der ihn später umbrachte«, gab der Gehilfe zu bedenken. »Dann wären die Stiefel ja so etwas wie eine Visitenkarte.«
Moe meinte, dass sie damit sicherlich an einem wichtigen Punkt seien, die Erklärung könne so oder so sein, doch dass die Stiefel fehlten, sei bestimmt kein Zufall.
»Ich sollte das wohl in meinem Bericht erwähnen«, murmelte er. »Die Leute beim PST haben keine Erfahrung mit solchen Mordfällen.«
»Wird sich denn nicht die Kriminalpolizei darum kümmern? Mord fällt doch in deren Zuständigkeit?«
»Nicht so ein Mord, Karlsen. Wenn Sie Recht haben mit Ihrer Vermutung, was da in der Bleidose ist, wette ich darum, dass das ein Fall für den PST ist, in enger Zusammenarbeit mit der Polizeidienststelle in Hammerfest.« Er lachte trocken. »So bleiben die Ermittlungen in der Familie, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Karlsen verstand ihn ausgezeichnet. Er hatte erst kürzlich an einem dreitägigen Kurs der Polizeibehörde in Hammerfest teilgenommen, bei dem es gerade um die Art Kriminalität gegangen war, mit der sie es hier möglicherweise zu tun hatten: Schmuggel von spaltbarem Material aus Russland und anderen exsowjetischen Staaten.
»Es gibt im Grunde nur eine Sache, die ich nicht richtig verstehe«, sagte er. »Angenommen, er wurde in Zusammenhang mit einem Schmuggelgeschäft getötet: Warum hat man ihn dann mit dem Plutonium in der Brusttasche ins Wasser geworfen? Stellen Sie sich doch mal vor, was die paar Gramm wert sind, und was für eine hektische Polizeiaktion dieser Fund nach sich ziehen wird. Der Mörder hätte eigentlich gleich zwei Gründe gehabt, so etwas zu verhindern. Oder, um es anders auszudrücken: Warum zieht er ihm die Stiefel aus, kümmert sich aber nicht im Geringsten um das, was der Typ in seinen Taschen hat?«
»Gute Frage«, sagte Moe. »So gut, dass ich meine, wir sollten die Antwort dem PST überlassen. Aber vielleicht ist es ja auch ganz einfach. Vielleicht hatte der Mörder ja keinen Grund zu der Annahme, dass sein Opfer in der Brusttasche Plutonium spazieren führte. Vielleicht ist er aus ganz anderen Gründen erschossen worden.«
Er nahm den letzten erlaubten Zug an seiner Zigarette, die er auch dieses Mal mit demonstrativer Vehemenz in der Kaffeetasse ausdrückte. In der Stille, die folgte, hörte er den sich nähernden Helikopter.
Gerhard, der mucksmäuschenstill auf seinem Stuhl gesessen hatte, konnte sich nicht länger beherrschen, er sprang auf und rannte ans Fenster.
»Jetzt kommt er!«, rief er hingerissen und zeigte auf den leuchtenden Punkt über dem Dach der alten Volksschule ein paar hundert Meter weiter im Inselinneren. »Der landet mitten auf dem Schulhof!«
Nachdem Katarina und die anderen Besucher gegangen waren, durchlebte Fritz Emil Werner einen langen, quälenden Abend mit mahlenden Schmerzen in der Brust. Es brannte so, dass er schließlich davon überzeugt war, etwas könne nicht stimmen und die Schmerzen seien auf einen medizinischen Fehler zurückzuführen – Adler musste da drinnen irgendetwas vergessen haben, eine Schere oder ein Messer, das jetzt die Operation auf eigene Faust fortführte. Es waren grausame Momente, in denen er fühlte, wie das Gerät an seinem Herzmuskel feilte. Benommen starrte er auf die Klingelschnur, die auf der linken Seite des Bettes von der Decke herabhing, doch aus Angst davor, was die Schere anrichten konnte, wagte er es nicht, sich zu bewegen. Sein Rücken wurde nass, und gleich darauf begann er zu frieren; er spürte ein leichtes Zittern in einem Arm und dann im Oberschenkel auf der anderen Körperseite – mein Gott, kamen die denn nie, um nach so einem armen Teufel zu sehen?
Schließlich konnte er es nicht mehr aushalten. Vorsichtig hob er den Arm, wickelte die Schnur ein paar Mal um seinen Daumen und zog. Ein Höllenspektakel brach los: Kirchenglocken, Feueralarm, Intifada!
Als die Schwester endlich in der Tür erschien – ja, es war die Brünette mit dem Rehblick –, fühlte sich Werner bereits mürbe von all dem Lärm, außerdem schämte er sich fürchterlich über das, was er in Gang gesetzt hatte. Doch es gelang ihm schließlich, zu erzählen, dass auf dem Operationstisch ein schicksalhafter Fehler begangen worden sein musste. Er komme fast um vor Schmerzen, bestimmt habe er innere Blutungen und müsse sofort wieder operiert werden.
»Ich verblute«, flüsterte er. »Holen Sie Dr. Adler, ehe ich einen Schock bekomme!«
Sie starrte ihn ungläubig an.
»Sie wollen, dass ich Dr. Adler rufe?«, fragte sie und blinzelte. Jetzt wusste er plötzlich, was ihn an ihrem Blick so faszinierte: Sie hatte ein braunes und ein grünes Auge. »Sind Sie sicher, er hat Bereitschaft und schläft gerade ...«
Werner versicherte ihr, dass es absolut nötig sei, schloss die Augen und verrichtete ein stilles Gebet. Die Schmerzen wollten nicht aufhören. Wenn es sich auch jetzt nicht mehr so anfühlte, als würde er zerschnitten und müsste verbluten: es war eher wie eine innere Verbrennung dritten Grades. Vor seinem inneren Auge sah er rot glühende Nervenstränge im verkohlten Muskelgewebe wie Glühwürmchen zusammenschrumpfen. Es fühlte sich an, als hätte jemand den Schneidbrenner voll aufgedreht und als leckten die Flammen an der Innenseite des linken Vorhofes entlang.
»Ihnen geht’s nicht gut, Werner?«
Adler beugte sich über sein Bett und sah ihn mit schläfrigen Augen an. Er gähnte. Erst einmal, dann noch einmal. Mit dem dritten großen Gähnen blies er die Flamme des Schneidbrenners aus.
»Nein, mir geht’s wirklich nicht gut«, jammerte Werner. »Aber vielleicht ist es jetzt schon wieder ein bisschen besser als eben.«
Adler nickte.
»Mein Freund, Sie haben eine kleine Entzündung in der Herzkammer. Das ist ganz normal. Kein Grund zur Sorge.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich sehe, es ist an der Zeit für ein paar Schmerzmittel.«
Er bat die Schwester, die Morphinspritze fertig zu machen, setzte sich breitbeinig auf einen Plastikhocker, der neben dem Bett stand, und schob sich zu ihm vor.
»Ich bleibe hier, bis Sie eingeschlafen sind«, sagte er. »Wenn Sie wollen, können wir reden. Wenn Sie lieber Stille wollen, kann ich aber auch gut schweigen.«
Werner spürte zu seiner Überraschung, dass er nichts mit Dr. Adler zu besprechen hatte. Dabei war dieser Doktor eigentlich ein Mensch, dem man gerne zuhörte. Geradeheraus, energisch, fast brutal in seiner Art, todkranken Menschen zu erzählen, wie schlecht es um sie stand. Aber Werner hatte nicht das Gefühl, dass ihn Adlers Wahrheitsdrang und seine Ermahnungen noch betrafen. Es gab wenig, was er noch nicht gehört hatte, dabei hatte Adler die Gabe, sich immer wieder neu und treffend auszudrücken, und es gab sicherlich viel zu lernen für jemanden, der sich noch immer mit Leib und Seele darauf konzentrieren sollte, zu überleben. Trotzdem langweilte ihn Adler.
»Sie glauben vielleicht, Ihre Probleme wären damit erledigt«, sagte Adler unaufgefordert. Er konnte vermutlich nie länger als ein paar Minuten schweigen. »In diesem Fall irren Sie sich. Ein kaputtes Herz rauszuschneiden, ist eine Sache. Das kann jeder Schlachtergeselle lernen. Aber ein neues Herz zu platzieren und es zum Schlagen zu bringen!« Er lachte sein kurzes, polterndes Lachen, das Werner von all den Besprechungen so vertraut war. »Was ich ihnen klar machen möchte«, fuhr Adler fort und nahm der Schwester die vorbereitete Spritze ab, »ist, dass jetzt die große Unsicherheit beginnt. Bis jetzt konnte die Sache durch menschliches Versagen oder technische Komplikationen schief gehen, doch solche Probleme sind eigentlich ungeheuer selten. Wir haben mit der Zeit reichlich Routine in diesen Operationen bekommen. Alle Apparaturen und alle Körperfunktionen werden fortlaufend überprüft und doppelt gecheckt. Ich pflege immer zu sagen, dass eine Herztransplantation genauso exakt geplant und überwacht wird wie ein Mondflug!«
Читать дальше