1 ...8 9 10 12 13 14 ...31 Er schob die makabren Traumbilder beiseite.
Die Wirklichkeit vor dem Krankenhausgelände war schon erschreckend genug.
Das scharfe Knattern der Maschinengewehre schien gar nicht enden zu wollen. Nur einmal wurde es von einem Schrei und dem dumpfen Knall einer Handgranate übertönt. Er begann zu frieren. Ein vager Gedanke blitzte durch seinen Kopf: Sollte er tatsächlich gesund werden, wollte er in die Stadt gehen – in das wirkliche Jerusalem – und sich mit eigenen Augen ansehen, was dort vor sich ging. Es musste doch einen Grund für all die sinnlose Gewalt geben. Etwas, das er bisher nicht verstanden hatte.
»Sie schicken ihre eigenen Kinder auf die Straße, um den Märtyrertod zu sterben«, hatte Abby gesagt, als sie am Abend vor der Operation auf die Ausschreitungen zu sprechen gekommen waren. »Sie tun nichts, um sie zurückzuhalten. Und hinterher, wenn wir versuchen, die Gewalt in den Griff zu bekommen, beschimpfen sie uns als Kindermörder. Sie haben keinen Funken Scham im Leib!«
Vor zwei Tagen hatte er dem im Großen und Ganzen noch zugestimmt.
Aber nun wusste er nicht mehr so genau, was er eigentlich glaubte. Als er von seinem Bett die Schießerei und das Rufen hunderter mit Stöcken, Steinen und Steinschleudern bewaffneter Jugendlicher hörte, breitete sich die Unruhe in heißen Wellen in seinem Körper aus. Eine Unruhe, deren Ursache er nicht kannte. Nur, dass sie vom Herzen ausging. Von seinem jungen, starken Herzen ...
Ulla Abildsøs Atem ging schwer, als die beiden uniformierten Wachmänner im Archiv anriefen und überprüften, ob sie tatsächlich erwartet wurde und willkommen war. Der Fußmarsch von knapp zweihundert Metern den Institutsweg hinauf durch den Schnee war anstrengend gewesen. Ihr war kalt, sie war außer Puste und außerdem wütend, weil die neue Prothese nicht so saß, wie sie sollte.
»Wenn Sie sich das bitte anstecken würden«, sagte der ältere der beiden Wachmänner und reichte ihr eine rote Plastikkarte, die man am Jackenkragen befestigen konnte. Gast stand darauf. Misstrauisch blickte sie auf das hohe Gittertor hinter der Wachstube und spürte nicht viel von Gastfreundlichkeit. Sie hätten lieber Gefangener darauf schreiben sollen, wäre ihr beinahe herausgerutscht. Aber sie schluckte es runter. Das Wappen über der Tür lud nicht gerade zu derartigen Scherzen ein: ein Schwert in einem rutherfordschen Atommodell. Das militärische Forschungsinstitut in Kjeller, unter Eingeweihten: das FFI.
Sie kämpfte mit der Ausweismarke. Als sie es endlich geschafft hatte und den Blick hob, schaute sie in zwei grinsende Gesichter, die sie offensichtlich schon eine ganze Weile bei ihren Bemühungen beobachtet hatten. Sie rümpfte die Nase. Gaffende Männer konnte sie auf den Tod nicht leiden. Sie hatte schon zu viele von ihnen erlebt. Dabei konnte sie nicht sagen, was ihr am meisten aufstieß: die bewundernden Blicke, mit denen sie ihr begegneten, wenn sie festgestellt hatten, wie schön sie war, oder die Enttäuschung, die sich auf ihren Gesichtern ausbreitete, wenn sie entdeckten, dass ihr ein Bein fehlte. Aber sie machte ihnen keinen Vorwurf. Sie war, wer sie war. Jeder Mensch ist vollkommen, wenn er mit seiner Herkunft in Einklang steht . Diese Herkunft verfolgte sie überall hin. Auch hierhin, in den Eingangsbereich des militärischen Forschungsinstituts.
»Folgen Sie mir bitte«, sagte der jüngere Wachmann. »Das Archiv ist im Verwaltungsgebäude. Das erste Haus auf der rechten Seite.«
Während sie versuchte, mit dem hochgeschossenen Rekruten Schritt zu halten, rekapitulierte sie das wenige, was sie über diesen Ort wusste. Das Militärische Forschungsinstitut war 1946 gegründet worden, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, um zu gewährleisten, dass der Wiederaufbau des Militärwesens auf der Basis moderner Technologie stattfand, die Norwegens spezielle Topografie, das Klima und die Kampfvoraussetzungen berücksichtigte. Dank engagierter Mitarbeiter, guter politischer Kontakte und umfassender finanzieller und fachlicher Unterstützung durch britische und amerikanische Kooperationspartner, war das Institut inzwischen das größte technisch-wissenschaftliche Forschungszentrum des Landes mit mehr als 500 Angestellten. Bis vor wenigen Jahren war der entscheidende Teil der Aktivitäten in einen Mantel der Geheimhaltung gehüllt gewesen, aber nach dem Ende des Kalten Krieges war man dazu übergegangen, Historikern, Journalisten und anderen »ernsthaft Interessierten« die Türen zu den Archiven zu öffnen.
Diesem neuen Trend zu mehr Transparenz war es zu verdanken, dass sie sich überhaupt getraut hatte, einen Antrag auf Einsicht in historische Dokumente zu stellen, die ein wenig Licht in das bringen konnten, was sie als DIE SACHE bezeichnete: der rätselhafte Tod ihres Vaters und der Onkel vor nun fast fünfundzwanzig Jahren. Obwohl es schon so lange her war, war ihre Erinnerung an die drei nach wie vor lebendig, natürlich am stärksten an ihren Vater. Sie war fünf Jahre alt gewesen, als er starb. »Du bist mein gutes Mädchen«, hatte er an jenem Morgen zu ihr gesagt. »Und jetzt geh raus und spiel. Aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Dass du das beste Mädchen hier im Norden bist.« Sie vergaß es nicht. Sie hatte es sich immer wieder vorgesagt, als sie zwischen den Hütten des Fischerdorfes herumhinkte, mit dem Schmetterlingsnetz, das er für sie gebastelt hatte, bevor die Krankheit ihn ans Bett fesselte. Als sie eine Stunde später zurückkam, um ihm den grünen Grashüpfer zu zeigen, den sie darin gefangen hatte, war er nicht mehr da.
»Das Archiv ist dahinter«, sagte der Wachmann und zeigte linker Hand auf eine blau gestrichene Tür. »Aber zuerst machen wir noch einen kleinen Abstecher.« Er öffnete eine Tür auf der anderen Seite der Halle. »Sie haben in fünf Minuten einen Termin bei dem Sicherheitsoffizier.«
Sie wusste nichts von diesem Termin, wurde aber belehrt, dass dies Teil der Standardprozedur war: Alle Besucher, die im Archiv des Instituts arbeiten wollten, mussten vorher zum Sicherheitsoffizier.
»Eine rein präventive Maßnahme«, fügte er beruhigend hinzu. Was vergebliche Liebesmüh war. Sie war nicht im Mindesten beruhigt. »So hoffen wir, Missbrauch und anderen nicht vorhersehbaren Verstößen gegen die Sicherheitsvorschriften entgegenzuwirken.«
Das Büro des Sicherheitsoffiziers sah aus wie jedes x-beliebige Büro: Sie suchte vergeblich nach dem Lügendetektor und der Folterbank. Der Sicherheitsoffizier Philip Halvorsen war ein rundlicher, gemütlicher Mann in den Fünfzigern, mit einem großen Muttermal auf der Stirn, einer komischen Warze auf der Nasenspitze und tiefen, vertikalen Furchen an den Ohrläppchen, die einigen Herzspezialisten als Hinweis auf eine besondere Disposition für Angina pectoris gedient hätten. In dem Fall sollte er sich vielleicht lieber nach einer anderen Arbeit umsehen. Die Verantwortung für die Sicherheit in einer Institution mit fünfhundert Angestellten und noch mehr Geheimnissen zu haben war ohne jeden Zweifel ein Garant für Herzbeschwerden.
Aber Halvorsen wirkte nicht die Spur gestresst.
»Ich will Sie nicht lange aufhalten«, sagte er. »Ich habe Ihren Antrag gelesen und weiß, dass er vom Direktor abgesegnet ist. Meine Aufgabe ist es, Ihnen die Spielregeln zu erläutern, mit denen wir in dieser Organisation operieren.« Er reichte ihr ein DIN A4-Blatt mit den Vorschriften auf der einen und ein paar leeren Feldern für persönliche Angaben auf der anderen Seite. »Wenn Sie so freundlich sein wollen, diese Informationen durchzulesen und unten zu unterschreiben, als Zeichen, dass Sie die Bedingungen akzeptieren, unter denen Sie hier arbeiten dürfen.«
Während sie las, saß der Sicherheitsoffizier ganz entspannt hinter seinem Schreibtisch und musterte sie ungeniert. Sie fragte sich, ob sein Glotzen Teil der Personenkontrolle war, aber darüber machte man hier wahrscheinlich keine Scherze. Stattdessen fragte sie ihn, ob häufig Verstöße gegen die Vorschriften vorkämen.
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