»Kommentare? – Wie steht es mit Ihnen, Hartmann?«
Martinsen sah ihn auffordernd an. Jetzt hieß es, sich nicht überfahren zu lassen. Hartmann räusperte sich.
»Der Besuch ist natürlich eine Traumchance für den World Islamic Jihad und Salem al-Salem«, sagte er. »Ein moderater palästinensischer Präsident ist ihnen ein Dorn im Auge. Genau wie Norwegen. Nicht nur aufgrund des Oslo-Prozesses, für den sie nur Verachtung übrig haben, sondern mindestens ebenso sehr wegen der Unterstützung des norwegischen Militärs im amerikanischen Kreuzzug gegen Afghanistan und wegen der Wiederbelebung eines prowestlichen Iraks. Wenn sie herausbekommen, wann der Besuch stattfindet, wäre das für sie die passende Gelegenheit, der Welt zu zeigen, dass wieder mit ihnen gerechnet werden muss.« Er gab eine kurze Zusammenfassung des geheimen Mossad-Berichts, wobei er besonders hervorhob, dass von israelischer Seite vor einem möglichen Anschlag auf Skandinavien gewarnt wurde.
Martinsen nickte anerkennend.
»Ausgezeichnet. Bleiben Sie dran an der Sache. Das scheint mir eine Warnung zu sein, die wir sehr ernst nehmen sollten. Sonst noch was?«
»Nur noch eins«, sagte Hartmann. »Ich möchte mich in dieser Angelegenheit persönlich um unsere Kontakte in Tel Aviv kümmern. Wir sind hundertprozentig abhängig von den Informationen, die wir von dort bekommen. Ich bin nicht bereit, die Verantwortung für eine derart wichtige Operation zu übernehmen, wenn ich mir nicht vollkommen sicher sein kann, die besten Verbindungen zu den Israelis zu haben.«
Alle Blicke wanderten zu Aslaksen, dem Chef der Abteilung »Liaison«, der normalerweise für sämtliche Verbindungen der operativen Aufklärung zum Mossad verantwortlich war. Es war allgemein bekannt, dass er nur äußerst widerwillig anderen Zutritt zu seinem Revier gewährte. Aber Aslaksen nickte zustimmend, als wäre das das Mindeste, und so beeilten sich Martinsen und Dahlbo, sich ihm anzuschließen. Die drei Männer in ihren Anzügen boten einen komischen Anblick, wie sie so um die Wette nickten.
»Natürlich sind Sie in diesem Fall Ihr eigener Verbindungs-Offizier«, sagte Dahlbo.
Frau Hansen hatte widerstrebend die Mappen der Archivserie 136 – Atombombe, 1955 – 1970 – herausgesucht, sowie einige wenige Mappen der Archivserie 611 – Wärmelehre. Alles in allem neunzehn Mappen, einige davon dick wie Bücher, andere nur dünne Hefter mit wenigen Blättern. Mit demonstrativ selbstaufopfernder Miene hatte sie die Unterlagen zu dem Platz getragen, den man Ulla zugewiesen hatte. Als Ulla sich anbot, ihr zu helfen, erntete sie einen gekränkten Blick.
»Meine Liebe«, sagte Frau Hansen, »ich habe nicht jeden Tag die Gelegenheit, etwas für unsere Behinderten zu tun.«
Ulla war es gewohnt, dass sich Menschen in ihrer Ausdrucksweise vergriffen oder ihr normales Verhalten ablegten, sobald sie die Prothese entdeckten, und ließ sich nicht verletzen. In gewisser Weise war es ihr lieber, wenn sie sich aus lauter Mitgefühl zu dummen Bemerkungen verstiegen, als einfach nur abweisend zu sein und keine Lust zu haben, ihr zu helfen. Mehr Sorgen bereitete ihr das Gefühl, dass Frau Hansen offensichtlich nicht daran dachte, sie in Ruhe arbeiten zu lassen. Der kleine Raum war gerade groß genug für einen kleinen Arbeitstisch, eine Schreibtischlampe und einen Stuhl. Fast wie eine Klosterzelle, dachte Ulla, und freute sich darauf, die Tür schließen zu können und mit den Dokumenten allein zu sein. Doch sie freute sich zu früh.
»Lassen Sie die Tür offen«, ermahnte sie Frau Hansen, als sie zurück in ihr eigenes Büro ging. »Sonst bekommen Sie Kopfschmerzen.«
Ulla hatte den schweren Verdacht, dass es nicht nur die Rücksicht auf ihr Wohlbefinden war, die Frau Hansen veranlasste, darauf zu bestehen, dass die Tür offen blieb. In regelmäßigen Abständen bemerkte sie dann auch, wie sich die Finger der Archivleiterin auf der Tastatur ausruhten, sie die Brille anhob und Ulla durch die offene Tür beäugte. Und es ärgerte sie, dass sie spürte, wie ihr dieser musternde Blick rote Flecken auf die Wangen trieb.
War Frau Hansen misstrauisch geworden, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte?
Nein, Ulla war sich sicher, dass das ständige Beobachten der Archivarin eher auf ihre Neugier denn auf Misstrauen zurückzuführen war. Die Begründung, die sie vor Monaten zusammengeschustert hatte, als sie um Einblick in das FFI-Archiv gebeten hatte, war umständlich genug formuliert gewesen, um wirklich Bestandteil eines Forschungsprojekts zu sein: »Mit Bezug auf die zahlreichen Behauptungen in der Presse, die Atombombenversuche in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hätten der nordnorwegischen und insbesondere der samischen Bevölkerung schwere gesundheitliche Schäden zugefügt, bitte ich um Einsicht in das Material des FFI-Archivs, mittels dessen diese Frage zu beantworten sein dürfte. Der die Arbeit betreuende Professor der Universität Tromsø kann bestätigen, dass diese Untersuchung Teil meiner Doktorarbeit im Bereich der Umweltmedizin ist, mit dem Titel: Die Vidda als radiologisches Laboratorium: Rentiersamen und Atombombenversuche, 1955 – 1963. « Sie hatte den Titel mit Sorgfalt gewählt und besonders darauf geachtet, das politische Element darin so deutlich herauszuheben, dass die Leitung des FFI es für unklug erachten musste, ihr die Einsicht zu verwehren. Den eigentlichen Grund, weshalb sie diese Akten studieren wollte – der Tod ihres Vaters und ihrer Onkel – hatte sie lieber unerwähnt gelassen.
Die erste Stunde nutzte sie dafür, die Mappe 136 – Atombombe, 1946–1953 – durchzublättern. Darin stand etwas über die aufkeimende Atomenergiezusammenarbeit zwischen Schweden und Norwegen in den ersten Nachkriegsjahren, repräsentiert einerseits durch das FFI, andererseits durch das schwedische Schwesterinstitut, die Militärische Forschungsanstalt (FOA). Aus diesen Papieren ging deutlich hervor, dass die Militärforscher der beiden Länder der Meinung waren, dass die Atomenergie eine bleibende Technik sein würde und sie bald wissenschaftliche Programme starten sollten, um eigene Kernwaffen zu entwickeln.
Sie wurde von einer Art Wehmut erfüllt, als sie über die intensive Zusammenarbeit von Schweden und Norwegern in den ersten Nachkriegsjahren las. Wo war das Brudervolk heute? Was war aus dem Traum einer nordischen Gemeinschaft geworden? Sie war zu jung, um selbst für diese Ideale gekämpft zu haben, wusste aber, dass ihre Eltern so gedacht hatten und dass ein geeinter Norden in vielerlei Hinsicht ihr wichtigster Horizont gewesen war. Jetzt waren das die EU, die USA und »the global village«. Plötzlich sehnte sie sich zurück nach Bakfjordeid, zurück in ihre Kindheit in der kleinen Fischersiedlung dort oben im Norden, bevor ihr Vater krank wurde.
Nachdem sie sich ein kurzes Beinestrecken gegönnt hatte – Frau Hansen seufzte laut und warf ihr einen Blick zu, der zu sagen schien, dass man, wenn man als Krüppel auf die Welt gekommen war, sich wenigstens auch als solcher verhalten sollte –, war Ulla endlich bereit, sich der Sache zu widmen, wegen der sie gekommen war: die rosafarbenen Mappen mit den Dokumenten über den Anstieg des radioaktiven Fallouts über Norwegen in den Jahren 1955 – 63. Dieser Anstieg war eine Folge der sowjetischen und amerikanischen Atombombenversuche in der Atmosphäre, insbesondere der sowjetischen Sprengungen auf Nowaja Semlja.
Von ihrem Heimatdorf in der Ost-Finnmark waren es nur 800 Kilometer bis nach Nowaja Semlja, und sie war sich beinahe sicher, dass der Grund für den Tod ihres Vaters und ihrer Onkel innerhalb dieses geografischen Quadrats zu suchen war. Diese Gewissheit trug sie in sich, seit sie belauscht hatte, was ihr Vater ihrer Mutter, Tora, am Abend vor seinem Tod gesagt hatte, und worüber Mutter später nie wieder hatte sprechen wollen. Sie leugnete sogar, dass er es jemals gesagt habe.
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