1 ...7 8 9 11 12 13 ...31 Er begann eine längere statistische Berechnung über die Zukunftsaussichten von Menschen mit Herztransplantationen. Werner versuchte, nicht hinzuhören. Adler wurde es anscheinend nie leid, seine Patienten daran zu erinnern, wie risikoreich es war, eine Transplantation zu überleben.
»Ich habe inzwischen mehr als hundert solcher Operationen durchgeführt, und nur einmal habe ich einen Patienten auf dem Operationstisch verloren«, dozierte er. »Einmal, Werner! Für die ersten zwei Tage nach der Operation ist die Statistik mit einer Sterblichkeit gleich null noch besser. Aber dann, mit Beginn des dritten Tages, ist es bei einigen Patienten zu Komplikationen gekommen, weil sich das Immunsystem des Körpers schlichtweg geweigert hat, das neue Herz zu akzeptieren. Das nennen wir Abstoßung oder Rejektion. Wie wir schon besprochen haben, können wir heute mit Hilfe von Cyklosporin und anderen blutungshemmenden und immunsuppressiven Präparaten das Risiko einer Rejektion drastisch verringern. Doch selbst bei dieser Behandlungsmethode kommt es vor, dass Menschen einfach zusammenklappen und sterben. Es gibt mit anderen Worten keine Garantie dafür, dass sich Ihr Körper mit dem neuen Herzen abfinden wird.«
»Und für wie groß halten Sie meine Chancen im Moment?«, fragte Werner spitz. »Alles normal?«
»Bis jetzt, ja.«
Adler warf ihm einen unergründlichen Blick zu, hielt die Morphinspritze vor das Licht und drückte einen winzigen Tropfen aus der Spitze. Dann beugte er sich vor und stach zu.
Die Schmerzen im Oberschenkel verrieten Werner, dass Adler die Spritze nicht richtig platziert hatte. Der Doktor kniff die Lippen zusammen, stach erneut zu und lächelte ihn aufmunternd an.
»So, ja. Jetzt werden Sie sich bald besser fühlen.«
Er stand auf, warf die benutzte Spritze in einen gelben Abfalleimer und ging zum Elektrokardiograph. Wenn das neue Herz plötzlich Probleme machte, würde die Maschine das Personal mit einem durchdringenden Ton warnen.
»Bis jetzt sieht alles richtig gut aus«, versicherte ihm Adler, nachdem er ein paar Minuten lang die Herzstromdiagramme betrachtet hatte. »Sie haben ein starkes, williges Herz bekommen. Die inneren Blutungen sind schwach. Heute Abend oder morgen früh werden wir bereits die Brustdrainagen entfernen können. Vielleicht setzen wir dabei direkt den Herzschrittmacher ein. Mal sehen.«
Adler redete wieder drauflos. Das meiste kannte Werner von früheren Terminen bereits auswendig. Er hatte sich längst damit abgefunden, dass der Kampf gegen die Abstoßung gleichzeitig die Anfälligkeit für andere Infektionen erhöhte. Selbst eine triviale Bakterien- oder Vireninfektion konnte bei einem Herzoperierten lebensbedrohende Konsequenzen haben.
»Was ich Ihnen zu sagen versuche«, fuhr Adler fort, »ist, dass Sie sich in den nächsten Tagen in einer Art existenziellen Grauzone bewegen. Vergleichbar mit einem HIV-Patienten ohne Aids.«
Werner lächelte angestrengt.
»Und wann etwa, glauben Sie, kann man mich wieder als gesund bezeichnen?«
Adler zögerte.
»Nun, das kommt auf Fortuna an und Ihre eigenen genetischen Grundlagen. Der eine Körper akzeptiert das eine Herz, der andere das andere.«
»Natürlich. Ich meinte, wenn alles gut läuft und es keine Komplikationen gibt ...«
Adler senkte seine Stimme.
»Unsere Jungs sind heute Nacht in Ramallah einmarschiert«, sagte er. »Gemäß den Zeitungen handelt es sich um eine begrenzte Reinigungsaktion, die gegen palästinensische Terroristen gerichtet ist. Die Einheiten sollen angeblich bis Ostern wieder abgezogen werden.« Er verzog sein Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Nun, ich gebe Ihnen mein Wort, dass wir Sie deutlich früher hier herausbringen.«
»Das ist ein seltsames Versprechen«, parierte Werner. »Bis Ostern sind es noch fünf Wochen. Wenn ich bis dahin nicht wieder fit bin, kann das nur bedeuten, dass ich das Zeitliche gesegnet habe.«
»Da haben Sie Recht.«
Werner lachte über den makabren Spaß, so gut es ging.
»Nur noch eine Kleinigkeit zum Schluss«, sagte er. »Sie dürfen mir darauf vielleicht keine Antwort geben, aber trotzdem: Woher kommt mein Herz? Ich fühle mich frisch wie ein Zwanzigjähriger!«
Alder kniff die Augen zusammen, so dass sie schmal wie Gedankenstriche wurden.
»Mein Freund, jetzt verstoßen Sie gegen alle Spielregeln.«
»Ich weiß, aber trotzdem.«
Adler ging zur Tür. Ohne sich umzusehen, sagte er:
»Glauben Sie mir, ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber in der Regel stammen die transplantierten Organe von Menschen, die vor kurzem bei einem Unglück ums Leben gekommen sind. Meistens bei Verkehrsunfällen.«
»Ist das immer so?«
»Nicht immer. Aber meistens.«
»Aber es gibt auch andere Fälle?«
»Ja.«
»Soldaten?«
»Wir verlieren nicht so viele Soldaten, dass wir davon ausgehen sollten.«
Draußen vor den Fenstern ging es wieder los. Ein paar Straßenzüge entfernt schoss jemand mit einem Maschinengewehr.
»Nun«, sagte Werner. »An der Sache wird offensichtlich mit Nachdruck gearbeitet.«
Werner fror. Alles war still. Die Beleuchtung war gedimmt, um den kostbaren Schlaf der vielen, zum Teil schwer erschöpften Patienten auf der Postoperativen Abteilung nicht zu stören. Draußen hatten sich die Schießereien und der Lärm der Ausschreitungen beruhigt. Jerusalem schlief.
Es war erst vier Stunden her, dass er eingeschlafen war, und ungefähr genauso lange seit seiner letzten Morphinspritze. Eigentlich hätte er wie ein Stein schlafen und von der jungen Katarina träumen müssen.
Dennoch war Werner aufgewacht.
Nicht abrupt. Nicht, weil jemand seinen Namen gerufen oder ihn wachgerüttelt hatte.
Durch den Nebel des Morphiums ahnte er, dass jemand im Raum war. Ein Schatten in der Nähe des Bettes. Ein schwacher, fast unmerklicher Atemhauch, der nicht der seine war.
Als er vorsichtig die Augen öffnete, sah er zunächst nichts. Aber sobald er sich an das Licht gewöhnt hatte, entdeckte er sie: Naomi Hirsch, die attraktive Krankenschwester mit dem russischen oder slawischen Akzent. Sie stand am Fußende seines Bettes und sah ihn mit großen, neugierigen Augen an. Sie schien besorgt zu sein. Ihre Brüste wölbten sich unter der engen Uniform. In seiner Schläfrigkeit konnte er nicht erkennen, was in ihr vorging. Fast kam es ihm so vor, als funkelte das grüne Auge vor Hass, das braune aber vor Liebe.
Wäre sie nicht so atemberaubend schön, hätte er sich auf der Stelle zu erkennen gegeben und sie gefragt, was anstand.
Aber er sagte nichts.
Schloss stattdessen die Augen. Tat, als ob er schlief.
Sie blieb noch eine ganze Weile vor dem Bett stehen, bevor sie sich leise zurückzog. Den Raum verließ. Der Duft von weißen Lilien hing in der Luft.
Während er dalag und darauf wartete, wieder einzuschlafen, wurde irgendwo in den menschenleeren Straßen vor dem Krankenhausgelände das Feuer eröffnet. Er dachte daran, wie viel Blutvergießen er im Zusammenhang mit seinen halbjährlichen Untersuchungen bei Dr. Adler erlebt hatte. Man konnte fast meinen, dass jeder Arztbesuch – mit all den Röntgenaufnahmen, EKG-Untersuchungen und der Neueinstellung der Medikamente – mit einer neuen Umdrehung der Gewaltspirale zwischen Israel und seinen Feinden zusammenfiel. Katarina und Abrasha, die die ganze Zeit nicht von seiner Seite gewichen waren, hatten alles getan, um ihn von den beunruhigenden Eindrücken abzuschirmen, die einem aus allen Medien und aus Jerusalems Straßen entgegenströmten. Ihre rührende Fürsorge hatte ihn natürlich nicht davon abhalten können, zu beobachten und zu reflektieren. Eher im Gegenteil. Je mehr sie ihn mit der brutalen und beunruhigenden Wirklichkeit verschonten, die sie umgab, desto erpichter war er gewesen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und je mehr sie ihm versicherten, es würde schon alles gut werden, und dass die Friedensgegner bald endgültig besiegt sein würden, desto stärker waren seine Zweifel geworden. Während der letzten Wochen vor der Operation hatte ihn immer wieder ein und derselbe Albtraum heimgesucht: Der gesamte Nahe Osten ertrank in einer Sintflut aus Blut. Stinkende Flüsse aus Schleim, Urin und Blut strömten durch die Straßen und rissen alles mit, was sich ihnen in den Weg stellte – tote Kinder, verstümmelte Körper, Tierkadaver, religiöse Schriften und Symbole. Überall stiegen die herzzerreißenden Schreie von Millionen von Arabern und Juden zum Himmel, die um ihr Leben liefen, in der Hoffnung, dem roten, reißenden Fluss zu entkommen ...
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