»Darf ich auch mal«, sagte der Assistent. »Mir geht da grad was durch den Kopf.«
Der Polizist nickte gemessen, als Zeichen, dass Karlsen den Beutel auch mal anfassen durfte. Gnädigerweise.
»Verflixt«, platzte Karlsen aufgeregt heraus. »Fällt Ihnen was auf? Die sind warm!«
Das mussten die anderen natürlich sofort nachprüfen.
»Eigenartig«, sagte Moe. »Ich glaube fast, Sie haben Recht.« Er blickte verwirrt zum Doktor. »Was bedeutet das?«
»Das bedeutet, dass wir sofort Hammerfest anrufen müssen«, erklärte Frihagen. Nach der großen Umstrukturierung 2002 war der Polizeipräsident von Hammerfest der offizielle Repräsentant des polizeilichen Sicherheitsdienstes in West-Finnmark. »Einverstanden, Karlsen?«
Der Assistent nickte ernst.
»Wenn ich das, was ich im letzten Jahr im Kurs zur Proliferation gelernt habe, nicht falsch verstanden habe, enthält dieser Beutel einen der begehrtesten Giftstoffe, die wir kennen. Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Meinung ist es nicht gefährlich, mit dem Stoff in Berührung zu kommen. Schlucken ist sehr viel gefährlicher. Aber der wahnsinnige Marktwert dieses Stoffes hat nichts damit zu tun, dass es sich um Gift handelt.«
»Sondern?« Moe kam offensichtlich nicht ganz mit.
Sein Assistent klopfte ihm auf die Schulter.
»Gut, dass Sie die Kleider untersucht haben, Chef. Das hätte einen schönen Eindruck gemacht, wenn wir den Kerl mit der Brusttasche voll Plutonium zur Obduktion geschickt hätten!«
Plötzlich war alle Welt gekommen und hatte nach ihm gesehen. Katarina – das war keine Überraschung, nach all der Zeit, die sie neben ihm im Flugzeug aus Oslo gesessen und seine Hand gehalten hatte, bis er in den Operationssaal geschoben worden war. Aber die anderen! Mein Gott, was sie nicht alles unternommen hatten, um ihm eine Freude zu machen! Sie waren alle gekommen: Carl-Christian, ihr Ältester. Alex, also Alexander Bonnevie, der schwedische Zauberer und Forscherkollege, der ihn schon sein ganzes Leben begleitete. Borgar, Fürst von Kretsen. Einar Westerlund, sein bester Freund seit der Schulzeit. Und natürlich Professor Yaacov Adler, die Antwort des Nahen Ostens auf Dr. Barnard; eine ganze Gruppe von Medizinstudenten, deren Anblick ihn nicht gar so erbaute – der Wissensdurst in ihren Augen verriet, dass sie ihm vielleicht nicht wirklich gute Besserung wünschten – sowie drei kastanienbraune Verlockungen in weißblauen Uniformen. Besonders die Brünette mit dem russischen Akzent – Naomi Hirsch stand auf dem Namensschild auf ihrer Brust – schien ein herzensguter Mensch zu sein, den man gern näher an sich heranließ. Doch allen voran: Dr. Abrasha Schwartz. Oder Abby, wie ihn Werner und die anderen Studienkollegen des Massachusetts Institute of Technology in Boston genannt hatten. Auch das lag schon ein ganzes Leben zurück. Doch Abby war und blieb derselbe. Und jetzt hatte er sein Leben gerettet. Genauer gesagt: dafür gesorgt, ihn hierher zu bringen, wo es Hilfe gab, damit er nicht zu Hause in der Warteschlange auf ein neues Herz sterben musste. Einen kurzen Moment lang hatte er Augenkontakt mit Abby, und dieser Blick hatte alle Worte überflüssig gemacht. Sie waren seit der Studienzeit befreundet, hatten große Dinge gemeinsam erreicht und kannten einander von Grund auf. Beide wussten, dass der Dienst des einen des anderen wert war, und dass wirkliche Freunde nie miteinander quitt waren, sondern sich gegenseitig lebenslange Dankbarkeit schuldeten.
Auf einmal begannen alle, durcheinander zu reden. Die einen auf Englisch, die anderen auf Norwegisch, und hinten an der Tür flüsterten die Studenten auf Hebräisch. Wenn er darauf vertrauen konnte, was die Menschen in seiner Gegenwart sagten, war er in verblüffend guter Form. Gesünder als ein gewöhnlicher Blinddarmpatient, meinte einer der Pfleger, während Carl-Christian wie gewöhnlich übertreiben musste und behauptete, er sähe jünger aus als auf seinem Hochzeitsfoto. Das war so albern, dass es ihn nicht einmal wütend stimmte. Die Fotografie stand in einem Silberrahmen zuhause in Frogner auf dem Kaminsims. Auf dem Foto war er dreiundzwanzig Jahre alt, sonnengebräunt und strotzend vor Kraft nach ein paar guten Jahren bei den Wettkampfruderern des MIT. Der Smoking saß perfekt und passte wie maßgeschneidert zu dem freimütigen Schnurrbart und dem blauschwarzen Bürstenschnitt. Wenn er nur einen Teil dieser draufgängerischen Vitalität bewahrt hätte, wäre er niemals hier gelandet – auf dem Rücken in einem Krankenbett in einem fremden Land mit dem Herz eines fremden Menschen in seiner Brust.
Katarina nickte zustimmend zu der absurden Übertreibung ihres Sohnes – auch wenn mit dicken Lettern auf ihrer Stirn zu lesen war, dass sein elender Zustand sie beunruhigte.
»Carl-Christian hat Recht«, stimmte sie ihm zu, »nur der Bart fehlt!«
Er erinnerte sie daran, dass es nicht gut war, zu lügen, insbesondere nicht vor Kranken und Alten. Katarinas Schultern sackten bei seinen Worten etwas nach unten, doch sein bester Freund, Einar Westerlund, der ewige Schlichter, war sogleich zur Stelle.
»Wenn es einen Ort gibt, an dem man lügen darf, Fritz, dann vor dem Krankenbett einer postoperativen Abteilung. Habe ich nicht Recht, Dr. Adler?«
Doktor Adler, der sonst immer so auf die Ehrlichkeit zwischen Arzt und Patient pochte, brachte es nicht übers Herz, ihm zu widersprechen. »Lassen wir es mal so stehen«, sagte er entwaffnend. »Bei kranken Menschen bewirkt eine fromme Lüge oft größere Wunder als ein ausgestelltes Rezept.«
Alle lachten, doch da schien Katarina auf einmal der Ansicht, die Stimmung sei zu gelöst. Schließlich befänden sie sich nicht auf der Entbindungsstation, sondern in einem Überwachungsraum der Herzchirurgie.
»Wir sollten ein wenig leiser sein«, sagte sie. »Das sollte doch eine Art Ruhezone sein.«
Obwohl er nicht verstand, was das jetzt damit zu tun hatte, widersprach ihr Werner nicht. Katarina hatte ihm damit den willkommenen Vorwand gegeben, dem allgemeinen Besuch ein Ende zu setzen. Die Narkose steckte ihm noch in den Gliedern, und er fühlte sich elend. Während des Gesprächs hatte er gespürt, wie wenig es brauchte, um ihm Gefühle zu entlocken; das Lachen saß locker, und seine Augen wurden feucht. Es gelang ihm gerade noch, die Tränen zurückzuhalten, als sich Katarina vor aller Augen auf seine Bettkante setzte, die Mundbinde nach unten streifte und ihm einen feuchten Kuss auf das Kinn gab (Mund und Lippen waren aufgrund der Infektionsgefahr tabu).
»Lieber Fritz, jetzt brauche ich mich nicht mehr zu fragen, ob dein Herz für mich schlägt«, sagte sie. Eine seltene Innerlichkeit war in ihrer Stimme, als sie das sagte. »Ich muss einfach nur meine Hand auf deine Brust legen – so –, und dann spüre ich, dass es stimmt!«
Doch, das alles war wirklich schön. Seine geliebte Katarina war eine Meisterin der Verstellung und der eingeübten Spontaneität. Nicht einmal an einem solchen Tag, an dem er auf dem Präsentierteller des Todes lag, gelang es ihr, sich von der Rolle der hingebungsvollen Ehefrau zu befreien. Sie beide waren unverbesserlich. Hätte sie nicht einfach ein paar mutige Tränen weinen können und sagen, was wahr war: dass sie sich freute, bald herausfinden zu können, wie weit ihn sein krankes Herz im Bett gehemmt hatte!
Es war im Übrigen ein ungewöhnlich großes Herz, hatte Doktor Adler gesagt. Eine der zahlreichen unerklärlichen Abnormitäten der Medizin – ein so genanntes Ochsenherz.
»Und draußen«, hörte er sich selbst fragen, wobei er unmerklich in Richtung Fenster nickte. »Hat das Morden ein Ende?«
Es wurde still um ihn herum. Durch die Stille drangen die fernen Geräusche der Stadt. Das Brummen von Motoren. Sirenen. Wütende Rufe. Eine plötzliche Gewehrsalve, die nicht beantwortet wurde.
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