In Mehr als ein Spiel – Zwei Studien zum Wiener Fußball der Zwischen kriegszeit legt Kulturwissenschaftler Wolfgang Maderthaner dar, dass »die Arbeitsmigration zu Beginn der zwanziger Jahre gleichsam zu einer alltäglichen Erscheinung im Fußballbetrieb« wurde: »Nun war der Fußball in Wien um diese Zeit bereits ein höchst internationales Phänomen geworden, eben weil er Ausdruck einer zutiefst urbanen Kultur, konzentriert auf die multikulturell geprägte ehemalige Habsburgerresidenz, war. Die Wiener Spitzenvereine fanden ihre wesentlichen Gegner nicht im eigenen Land, vielmehr wurde mit Prag und Budapest ein reger Spielverkehr gepflogen, die regelmäßigen Oster-, Pfingst- und Weihnachtstourneen der Großclubs fanden ein ausführliches und aufgeregtes Echo in der Sportpresse.« 5
»Aufschrei der Masse«
In Wien stritten die Politiker verschiedenster Couleur um die Gunst der Bevölkerung und versuchten, einer schwierigen sozialen Lage Herr zu werden, die großen Zündstoff in sich trug.
Die politische Landschaft war zerklüftet. Die Christdemokraten kämpften erbittert gegen die Sozialdemokraten. Die illegalen Nationalsozialisten nutzen die Zeit des Übergangs, um ihre Propaganda und ihre Parolen unter die Leute zu bringen. Die Spannungen zwischen der rechtsradikalen »Frontkämpfervereinigung« und den Mitgliedern des sozialdemokratischen »Schutzbundes« wurden immer größer und führten am 15. Juli 1927 zum Justizpalastbrand. Der Grund dafür war ein mildes Urteil gegen die »Frontkämpfervereinigung«, die auf Mitglieder des »Schutzbundes« geschossen hatten. Ein Kind war bei dem Schusswechsel getötet worden. Die Arbeiter ließen sich in ihrer Empörung nicht mehr stoppen und zündeten den Justizpalast an. Die darauf folgende Auseinandersetzung mit der bewaffneten Polizei, bei der 89 Menschen starben, brachte die Erste Republik an den Rand eines Bürgerkrieges.
Der Schriftsteller Elias Canetti sah mit 22 Jahren den Justizpalast brennen. Es wurde ihm in jenen Tagen bewusst, was es für ein Individuum heißt, in der Masse zu stehen. Für den Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler war dieses Ereignis, wie er in Hamlet oder Happel ausführt, »noch nicht die wichtige Keimzelle für sein Werk Masse und Macht , nein, diese war der Sportklub Rapid.« 6Also jener Verein, dem Ernst Happel lebenslang verbunden bleiben sollte.
Als der Justizpalast brannte, wohnte Canetti in Hietzing und arbeitete an einer Dissertation in Chemie. In Die Fackel im Ohr . Lebensgeschichte 1921-1931 , dem 1980 publizierten zweiten Teil seiner dreibändigen Autobiographie, schreibt er über diesen Tag: »Eine schwache Viertelstunde Weges von meinem Zimmer, auf der anderen Talseite in Hütteldorf, lag der Sportplatz Rapid, wo Fußball-Kämpfe ausgetragen wurden. An Feiertagen strömten Menschen hin, die sich ein Match dieser berühmten Mannschaft nicht leicht entgehen ließen. Ich hatte wenig darauf geachtet, da mich Fußball nicht interessierte. Aber an einem Sonntag nach dem 15. Juli, es war ein heißer Tag wie damals, ich erwartete Besuch und hatte die Fenster geöffnet, hörte ich plötzlich den Aufschrei der Masse. Ich dachte, es seien Pfuirufe, und so erfüllt war ich noch vom Erlebnis des furchtbaren Tages, dass ich mich einen Augenblick verwirrte und Ausschau hielt nach dem Feuer, von dem er erleuchtet war. Doch da war kein Feuer, in der Sonne glänzte die Kuppel der Kirche von Steinhof. Ich kam zur Besinnung und überlegte: Das mußte vom Sportplatz kommen. Als Bestätigung wiederholten sich bald die Laute, in ungeheurer Anspannung horchte ich hin, es waren keine Pfuirufe, aber es war der Aufschrei der Masse. (…) Es fällt mir schwer, die Spannung zu beschreiben, mit der ich dem unsichtbaren Match aus der Ferne folgte. Ich war nicht Partei, da ich die Parteien nicht kannte. Es waren zwei Massen, das war alles, was ich wusste, von gleicher Erregbarkeit beide und sie sprachen dieselbe Sprache. Damals (…) bekam ich ein Gefühl für das, was ich später als Doppel-Masse beschrieb und zu schildern versuchte. (…) Aber was immer es war, was ich schrieb, kein Laut vom Rapid-Platz entging mir. Ich gewöhnte mich nie daran, jeder einzelne Laut der Masse wirkte auf mich ein. In Manuskripten jener Zeit, die ich bewahrt habe, glaube ich noch heute jede Stelle eines solchen Lautes zu hören, als wäre er durch eine geheime Notenschrift bezeichnet.« 7
Für Schmidt-Dengler wäre es fair gewesen, wenn Canetti den Nobelpreis mit dem Sportklub Rapid geteilt hätte. Der Wiener Germanist legte 2002 dar, welchem Ereignis wir die bahnbrechende Studie Masse und Macht (1960) verdanken, und stellte die rhetorische Frage, welcher Fußballverein der Welt sich rühmen könne, ein mit dem Nobelpreis gekröntes Werk verursacht zu haben.
Von den Dichtern und Intellektuellen wurden Rapid und die bei dem Verein spielenden Tschechen nicht nur einhellig verehrt und geliebt. Der Journalist und Dichter Soma Morgenstern (1890-1976) schrieb am 13. Juli 1928 voller Empörung an seinen Freund Alban Berg, dem Komponisten von Lulu und Wozzeck , einem ebenso glühenden wie ahnungslosen Rapid-Fan: »Dein Triumph mit ›Rapid‹ macht mir gar nichts. Über ›Hakoah‹ siegten die Rapidler auf eigenem Platz wie immer mit der Hilfe des Schiedsrichters. (…) Ich hasse diese Tschechen von ›Rapid‹!« 8
Pfiffe für Mussolinis Fußballer
Für die Verbreitung der Ideologie des Faschismus sorgten inzwischen die Heimwehren, die in allen Bevölkerungsschichten präsent waren. Ab 1927 wurden von den Unternehmern gelbe Gewerkschaften organisiert. Die Aufmärsche im Oktober 1927 in Linz waren so erfolgreich, dass sie den Sozialdemokraten schwere Verluste zufügten, zumal diese lautstark verkündet hatten, solche Aufmärsche in Arbeiterstädten zu verhindern: »Im Februar 1928 marschierten die Heimwehren durch Meidling«, so Jürgen Dolls Analyse, »ohne dass jedoch dieser ›Marsch auf Wien‹ wie beim italienischen Vorbild den Auftakt zur Machtübernahme bedeutet hätte. Da es den Heimwehren nicht gelang, zu einer Massenbewegung im Stile der Schwesternorganisationen zu Deutschland und Italien zu werden, wovon ihre schwachen Resultate bei den Wahlen von 1930 zeugen, verlegten sie ihre Hoffnungen auf einen gewaltsamen Umsturz. (….) Im größten österreichischen Industrieunternehmen, der von der deutschen Großindustrie dominierten Alpinen Montangesellschaft, wurden nur mehr heimwehrorganisierte Arbeiter beschäftigt.« 9
Seit dem Frühjahr 1928 wurden die Heimwehren nicht nur vom Hauptverband der Industrie und von den Banken, sondern auch vom faschistischen Italien mit Geld und Waffen versorgt.
1931 führt die Weltwirtschaftskrise zum Zusammenbruch der Österreichischen Creditanstalt. Das Bankdesaster verschlimmert die soziale Lage vieler Österreicher/innen und ermöglicht einen immer stärker werdenden Einfluss rechtsradikaler Kräfte. Die Konflikte schaukeln sich in den 1930er Jahren immer stärker auf.
Das Burgtheater, die Identität stiftende Institution Wiens, bringt am 22. April 1933 das Stück Hundert Tage von Benito Mussolini und Giovacchino Forzano zur Aufführung und »Geld ins Land«, wie die Wiener Sonn- und Montags-Zeitung (2.5.1933) mit der Überschrift »›Hundert Tage‹ und die österreichische Industrie. Große italienische Aufträge an verschiedene österreichische Industrieunternehmen« berichtet: »Die Herzlichkeit der österreichisch-italienischen Beziehungen trägt auch wirtschaftlich Früchte. In der letzten Zeit flossen namhafte Bestellungen aus Italien bei verschiedenen österreichischen Firmen ein. Dieser Ordereinlauf hat sich seit der glanzvollen Aufführung von Mussolinis Napoleon-Drama erheblich gesteigert, und man führt in eingeweihten Kreisen diese Tatsache auf persönliche Initiative des Duce zurück. Namentlich die völlig reorganisierten Krupp-Werke mit einem derzeitigen Arbeiterstand von 1.100 Mann sind voll beschäftigt, vornehmlich dank italienischer Aufträge. So ereignet sich die selten zu beobachtende Tatsache, dass ein gut gebrachtes Drama im Staatstheater ein anderes Drama, das Drama in den industriellen Elendsorten Österreichs zu mildern vermag.«
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