Er stieg schnell ab, glitt das letzte Stück am Stamm hinunter in den Park. Tastete sich in der Dunkelheit des Gebüsches zurecht, das nach faulendem Laub und nach Spinnweben roch, fand den Weg und ging eilig, im großen Bogen das Herrenhaus meidend, zum See hinunter. Die Hunde rasten ihm entgegen, sprangen an ihm hoch, wollten ihn vielleicht beißen. Aber weil er ganz ruhig stand, sie nicht abwehrte und nicht anlockte, wurde es ihnen langweilig. Das Boot kam näher. Ein Pfiff und der Ruf der zirpenden Stimme. Die Hunde stürzten sich kopfüber ins Wasser, schwammen keuchend die paar Meter, wurden ins Boot gezogen.
Gleich darauf landete Eva, Baronesse Camphausen, sprang, mit einer Hand auf das Ruder gestützt, in der andern Hand die Laterne schwingend, ans Ufer und erschrak, als sie feststellen mußte, daß der Mann am Ufer weder der Diener war, noch der Gärtner, noch ein Knecht.
„Warum bellen die Hunde nicht?“ rief sie ärgerlich und sah den Fremden vorwurfsvoll an.
Mallon fand sie reizend. Solche Chinesenaugen, schräg gestellt über dicken Backenknochen, mochte er gern. Sicher hatte sie Sommersprossen. Auch das liebte er.
„Hunde mögen mich eigentlich“, sagte er stolz.
Die Baronesse ging nicht darauf ein. Ihr war es etwas ängstlich zumute und trotzig aus Ängstlichkeit. Sonst bewachte man doch jeden ihrer Schritte. Sonst konnten Onkel Tiede und die Mama nicht genug betonen, daß sie als Achtzehnjährige vielen Gefahren ausgesetzt sei und jedenfalls die stundenlangen Märsche ins Luch und die Kahnfahrten auf der Rühe wegen der Vagabunden und Schiffer aufhören müßten. Und hier stand sie nun verlassen, kaum fünfhundert Meter vom Schloß. Kein Mensch kümmerte sich um sie, und Hektor und Stenz, die dummen Hunde, umschwänzelten den Fremden.
„Sie sind doch, bitte, kein Bummler“, sagte Eva schließlich und zog die Schultern zaghaft hoch.
„Doch, ich bummle hier“, antwortete Mallon, „ich bin heute angekommen. Ich wollte mich ein wenig umsehen.“ Er legte die Hände auf die Hüften und lachte. Eva Camphausen seufzte erleichtert.
„Bummler“, sagte sie, „nannten Ingo und ich die Pennbrüder, die in den Park stiegen, um zu übernachten. Meist aber riechen die schrecklich nach Schnaps ... Na und überhaupt.“
Mallon berichtete nun höflich, daß er der Führer der Dampfwalze sei, die das Fräulein sicher vor zwei Stunden habe pfeifen hören. Dampfwalze? Nein, sie hatte nichts gehört. Aber man konnte schon eine ganze Zeit mit dem Auto nicht mehr nach Himmelang. Man mußte reiten oder den Krümperwagen nehmen, wenn was zu besorgen war. Man konnte nun auch nicht mehr nach Gerstedt „zu meinem Onkel Tiedebüll — aber eigentlich ist es nur ein entfernter Onkel —“, überall aufgehackte Chaussee. Nein, sie hatte noch keine Dampfwalze gesehen. Nun wurde also die Landstraße gewalzt. Einen Wohnwagen? Nein, auch keinen Wohnwagen. Oder doch einen mit Zigeunern, „wo zu jedem Fenster die gestohlenen Kinder herausgucken und die bunten Lumpen“.
Sie nahm die Laterne auf und leuchtete Mallon ins Gesicht. Er gefiel ihr.
„Ein bißchen klein sind Sie“, sagte sie mißbilligend.
Der Maschinist konnte es nicht leugnen. Ein Familienfehler! Seine Mutter war auch so zierlich. Er zeigte knapp bis zu Evas Schultern.
„Es lag nicht am Essen“, entschuldigte er sich, „meine Mutter ist Leuteköchin. Da gibt es immer genug und mehr als genug. Aber mein Sohn ist auch so klein. Vier Jahre und noch winzig.“
Die Baronesse lachte: „Sie sind verheiratet?“
Mallon wurde rot. Was hatte er da erzählt.
„Verheiratet nicht gerade“, gestand er verlegen.
Nun war das Rotwerden an Eva. Aber sie unterdrückte es tapfer.
„Ach so ...“, sagte sie, „ja Gott, ja, ein natürliches Kind.“
„Riesig natürlich“, lachte Mallon erleichtert, „riesig natürlich. Nicht mal von seiner Mutter zu beeinflussen. Selbständig, daß wir uns alle ein Beispiel nehmen könnten.“
Eva gab das Gespräch auf. Sie waren auch schon nahe am Schloß.
„Links das Licht ist das Boudoir meiner Mutter, rechts das Herrenzimmer. Eigentlich steht es leer, jetzt wohnt manchmal Herr von Tiedebüll drin.“
Sie bog scharf ab, sie begleitete den Herrn Maschinisten noch ein Stück. Mallon nahm die Laterne. Die Hunde trabten voran. Man betrat den unbewohnten Teil des Parkes, den „Indianerteil oder die Kinderreservate“, wie Tiedebüll sie nannte. Dahin kam die Baronin nie. Rechts mußten die Wigwams sein, die Eva mit ihrem Bruder Ingo gebaut hatte, und mehr an der Mauer die feindlichen des Vetters Felix von Specht.
Mallon leuchtete mit der Laterne in die Büsche. Man sah eine kleine Hütte aus Latten, mit draufgelegten Rasenstücken. Eva kniete sich davor, riß die morsche Tür auf, versuchte sich hineinzuzwängen. Aber sie blieb mit den Schultern stecken. Sie ruckte und stemmte sich. Aber sie kam nicht vorwärts.
„Es geht nicht“, sagte sie leise und stand auf.
Sie verabschiedete sich von Mallon. Sie versprach, bald zu kommen. Maschinen machten ihr Spaß. Den Dynamo zum Beispiel liebte sie, der die Wasserpumpe von Duderstedt trieb und das elektrische Licht erzeugte. Auch ein Radio hatte sie, einen Dreiröhrenapparat.
Während Mallon schnell bis zur Mauer kam und in seinen Wagen kletterte, ging die Baronesse langsam zurück. Mochten sie ruhig noch ein bißchen mit dem Skat warten. Merkwürdig, vor einem Jahr hatte sie noch im Wigwam gesessen. Was war das jetzt? Warum wuchs sie so schnell? Was hatte sie davon? Bis jetzt nur, daß dies und jenes zu eng wurde, daß vieles klar wurde, was ihr besser verborgen geblieben wäre, und daß alles verborgen blieb, was sie gern gewußt hätte.
Vor dem Hause zögerte sie ein bißchen. Sie schrie überlaut nach den Hunden, spielte lärmend mit ihnen, während ihr Gesicht immer trauriger wurde, ging langsam und pfeifend über den Sandsteinboden des Flurs und klopfte am Boudoir.
Die Baronin hatte schon die Karten in der Hand. Sie sah ihre Tochter forschend an und schüttelte den Kopf. Die langen Ohrringe, die immer in zitternder Bewegung blieben, selbst wenn die Baronin ganz still saß — Tiedebüll nannte sie das Nervometer —, die Ohrringe flogen um ihren Kopf.
„Ich war auf dem See“, sagte Eva zuvorkommend und kniff die Augen zusammen.
Immer noch las Tiedebüll an Seite eins der Kreuz-Zeitung!
„Merkwürdiges Jahr“, brummte er jetzt, schob das kleine, hochmütige Gesicht über die Zeitung weg und nahm das Monokel ab, „die Spinnweben auf dem See, Altweibersommer im Frühjahr ...“
Alle drei lachten jetzt, die Baronin glucksend und dunkel, Eva überhell und glatt, Tiedebüll spitz und stöckerig. Danach putzte er sein Einglas und fuhr mit einem Finger den Scheitel entlang, der seit Jahrzehnten in der Mitte gezogen, sich nun am Kopfende zu einem Rondell erweiterte.
Dann konnte das Spiel beginnen. Die Pechsträhne lag an diesem Tage bei der Baronin. Sie spielte auch sehr unaufmerksam. Waren ihre Augenlider wirklich rot, oder irrte sich Eva? Jedenfalls machte Tiedebüll überhaupt keine Pausen zwischen den Zigaretten. Frau von Camphausen rauchte gar nicht. Kopfweh?
Die Baronin lächelte dankbar und spielte falsch aus. Schellenunter war doch im Spiel! Natürlich wußte sie es; sie hatte aber eine besondere Taktik. Herrn von Tiedebüll geriet der Rauch gleichzeitig in die Kehle und ins monokelfreie Auge. Er hustete und weinte, daß er die Karten aus der Hand legen mußte. Er legte sie versehentlich offen auf den Tisch. Eva schrie empört: Das Spiel hätte sie gewinnen müssen.
„Nein, man kann heute nicht mit euch spielen“, seufzte sie, machte ein Fenster auf und klingelte nach dem Abendgrog. Der Diener Louis brachte das Tablett mit den zwei Gläsern, der Rumflasche, dem Zucker, der Zitrone und dem elektrischen Kocher. Er empfahl sich. Sein Tag war zu Ende.
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