Dann gab es da noch dieses Problem mit dem Essen. Angefangen hatte es beim Springlehrgang in Italien und im darauffolgenden Urlaub mit meinen Eltern. Ein Faktor bei der Entstehung meiner Essstörungen war vermutlich das regelmäßige Wiegen beim Training und entsprechendes Lob beziehungsweise entsprechende Kritik durch unseren Trainer. Ich fing an, mein Essen zu kontrollieren, es mit dem Kopf zu steuern. Wenig zu essen und gesunde Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, war gut. Viel und Ungesundes zu essen, war schlecht. Wenn mein Vater als Nachtisch nach dem Mittagessen einen Fruchtquark zubereitet hatte, fragte ich ihn immer, ob er Zucker hineingetan hatte. War nur ein Hauch Zucker darin, verweigerte ich den Nachtisch. Mein Ziel war nicht unbedingt, viele Kilos abzunehmen, sondern nur ein bisschen. Ich wollte durchaus meinen athletischen Körper behalten, wie er war. Gleichzeitig beschäftigte ich mich, angeregt von meiner Mutter, mit gesunder Ernährung und der Schädlichkeit von Zucker. Meine Gedanken kreisten derartig zwanghaft um meine Nahrungsaufnahme, dass ich an manchen Tagen in der Schule Mühe hatte, dem Unterrichtsstoff zu folgen. Ständig überlegte ich, was ich wann essen würde und wie viel ich heute schon gegessen hatte. Ich war völlig fixiert auf dieses Thema. Dabei wollte ich meinem Körper nicht schaden, es war nicht so, dass ich ihn gehasst hätte. Außer wenn ich zu viel gegessen hatte – eine Folge meiner manchmal zu geringen und rationierten Nahrungsaufnahme. Es konnte schon vorkommen, dass ich bei einem Fressanfall doppelt oder dreimal so viel aß, wie mir guttat, und mich danach extrem schlecht, dick und unbeherrscht fühlte. Das passierte regelmäßig am Abend nach dem Training sowie am Wochenende, wenn ich nach einem Wettkampf oder Lehrgang nach Hause kam und nichts vorhatte. Ich reagierte auf solche Essattacken mit Selbstabwertung und extremer Enttäuschung über mich selbst sowie mit dem Versuch, erst wieder Essen zu mir zu nehmen, wenn mir der Magen knurrte. Glücklicherweise habe ich mir niemals nach dem Essen den Finger in den Hals gesteckt und mich wieder erbrochen und auch nie zu Abführmitteln gegriffen.
In meinem Tagebuch analysierte ich, siebzehnjährig, meine Essattacken. Ich fand heraus, dass sie immer dann auftraten, wenn ich negativ gestimmt war. Entsprechend war meine Schlussfolgerung, dass ich darauf achten müsste, immer positiv gestimmt zu sein. Gemäß der Sichtweise meiner Mutter, die ich schon längst übernommen hatte, handelte es sich bei der eigenen Stimmung ja um etwas, was man willentlich beeinflussen konnte. Es war eine Frage des Wollens, ob man gut oder schlecht gelaunt war! Damit meine Stimmung positiv und ich voller Selbstvertrauen wäre, müsste ich einfach dauerhaft ein positives Bild von mir haben und positiv von mir selbst denken. Nur wenn ich über ein positives Selbstbild verfügte, konnte ich kontrolliert essen, also musste ich zuerst dieses positive Selbstbild entwickeln. Aber wie konnte ich das schaffen?
In einer Buchhandlung fand ich ein esoterisches Buch über kreatives Visualisieren und das »Höhere Selbst«, das in jedem Menschen verborgen ist und zu dem man nur Zugang finden muss. Ich las und schrieb Sätze auf wie zum Beispiel: »Das Gute ist in mir. Ich bin voller positiver Kraft und Energie, Ruhe und Gelassenheit.« Oder: »Das Licht meines Höheren Selbst strahlt jetzt in mir.« Ich versuchte, mir diese Sätze bildlich vorzustellen und an sie zu glauben. Im Grunde ging es bei diesen Affirmationen um die Macht des Positiven Denkens, der ich damals folgen wollte. Heute sehe ich das sehr kritisch. Damals kaufte ich mir jedoch eine Kassette mit dem Titel: »Ich kann, was ich will«. Über mehrere Wochen hörte ich sie mir täglich an. Danach glaubte ich tatsächlich fest daran – und das über die nächsten zwei Jahrzehnte –, dass ich alles können würde, wenn ich es nur fest genug wollte. Ein fataler Trugschluss, wie sich aber erst nach vielen Jahren herausstellte.
Einmal hörte ich diese Kassette zusammen mit meiner Mutter an. Dazu legten wir uns auf Decken auf den Boden, und ich sagte ihr, sie solle sich ganz auf den Text einlassen. Nach dem Hören fragte ich sie, wie sie es empfunden habe. Leider konnte sie damit überhaupt nichts anfangen. Sie sprach aber auch nicht weiter mit mir darüber, fragte mich nicht, warum ich mich mit derartigen Sachen beschäftigte. Also machte ich fortan alleine weiter. Mit anderen Menschen sprach ich niemals über meine Versuche, mittels Suggestionen mein Selbstvertrauen zu steigern. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass ich das hätte tun können.
Auch das Autogene Training, ein anerkanntes Entspannungsverfahren, arbeitet mit der Macht von körperbezogenen Vorstellungen. Man sagt sich zum Beispiel: »Meine Arme und Beine sind strömend warm«, auch wenn das gerade gar nicht der Fall ist. Tatsächlich werden die Arme und Beine durch diese Vorstellungsübung auch wirklich warm, wenn man in dieser Technik geübt ist.
Ich glaubte an die Macht dieser Vorstellungsübungen und belegte zu Beginn meines dreizehnten Schuljahrs einen Kurs in Autogenem Training an der Volkshochschule. Ich wollte mich mit dieser Methode auf den Prüfungsstress des Abiturs vorbereiten. Ich war die Jüngste in dieser Gruppe und schrieb Martina in einem Brief, dass die anderen Leute ja »wirkliche Probleme« hätten, anders als ich. Offensichtlich hatte ich meine Schwierigkeiten mit dem Essen und meine Angst vor dem Springen dabei völlig ausgeblendet, weil ich auch mit niemandem darüber sprach. Wenn meine Gedanken einmal nicht ums Essen kreisten, waren sie auf die Sprünge fixiert, vor denen ich Angst hatte.
Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag passierte es, dass ich bei einem neuen Sprung gestreckt mit dem Rücken auf die Wasseroberfläche knallte. Ein Gefühl wie ein Elektroschock ging durch meinen Körper, irgendwie mussten meine Nerven verrückt gespielt haben, und es tat sehr weh. Kurz nachdem ich aus dem Wasser geklettert war, zitterten meine Beine und konnten mich kaum mehr tragen. Ich schwamm noch ein paar Bahnen im Becken, übte ein paar einfache Sprünge und beendete dann das Training für diesen Tag. Bei einem Wettkampf wenige Tage später verweigerte ich diesen Sprung, ich traute mich einfach nicht. Umso erstaunter war ich, in meinem damaligen Tagebuch zu lesen, dass ich auch nach diesem Unfall eigentlich gar keine so große Angst vor dem Sprung hatte. Ich müsse nur einfach volle Pulle abspringen. Ich glaube, ich habe damals nach dem Motto gehandelt: Was ich nicht aufschreibe, existiert nicht. Wenn ich nicht von meiner großen Angst vor diesem Sprung schreibe, habe ich auch keine.
Einmal war ich mit meiner Familie bei einer eigentlich sehr schönen Ballettaufführung von »Schwanensee« – ich bekam nur leider kaum etwas davon mit, weil meine Aufmerksamkeit nach innen auf meine Angstvorstellungen gerichtet war. Es gelang mir nicht, sie nach außen zu richten. Damit habe ich bei Theatervorstellungen oder Konzerten noch heute oft Probleme. An diesem Tag jedoch hatte ich wie so oft große Angst vor dem nächsten Training und versuchte diese mittels gedanklicher Vorübungen in Schach zu halten, anstatt mit jemandem über meine Ängste zu sprechen. In dieser Zeit kam meine Mutter zu mir und erzählte, Heiko hätte sie gefragt, ob es mir nicht gut gehen würde, ich würde in der letzten Zeit nicht gut aussehen. Sie habe ihm daraufhin sofort geantwortet, mit mir sei nichts, es gehe mir gut. Das ist schon seltsam: Mein Trainer sah mir an, dass ich litt, und er hatte recht – während meine Mutter, die kaum etwas von meinem Befinden wusste, trotzdem einfach behauptete, es gehe mir gut. Ich klärte sie nicht auf, denn sie hatte mich nicht nach meinem Befinden gefragt, sondern mir nur von dieser Begebenheit berichtet.
Zu Hause litt ich sehr unter der angespannten Atmosphäre in unserer Familie. Ich erlebte sie als zerpflückt und zerstritten. Meine Mutter lud seit Jahren ihre Sorgen und Eheprobleme bei mir ab. Sie schätzte meine Fähigkeit, ihr zuzuhören und gut zuzureden. Nur für mich und meine Probleme war niemand da. Ich machte alles mit mir alleine aus, weil ich den Eindruck hatte, meine Mutter benötigte die Gewissheit, dass wenigstens ich mit allen Anforderungen zurechtkam. Ich war gut in der Schule, war im Leistungssport eingebunden und gab außerdem Nachhilfe. Meine Mutter bewunderte mich als Kind und Jugendliche immer sehr, da ich in ihren Augen sehr patent war und ihr sogar Tipps gab, wie sie sich verhalten solle. Diese Bewunderung war mir immer unangenehm, da ich sie nicht als zutreffend empfand und mich von ihr darin überhaupt nicht gesehen fühlte.
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