3.6 Auslassung, Verschmelzung und Ellipsen in Komposita
Die Bildung von Komposita entspricht laut Autor ebenfalls dem allgemeinen Bedürfnis der Sprecher nach Kürze und Bestimmtheit in Ausdruck (Götzinger 1836: 778, im Folgenden G I). So ermöglichen es auch Komposita, unnötige Informationen nicht zu nennen, sodass nur die wichtigsten durch ihre explizite Realisierung hervorgehoben werden. Gleichzeitig gilt aber auch für Komposita das ‚Gesetz‘ der Kürze, denn Götzinger führt aus, dass Komposita sich nicht aus mehr als zwei Formativen zusammensetzen sollten, da ein deutsches Wort nur einen Akzent trage. Komplexere Komposita entsprächen nicht dem deutschen Sprachcharakter und seien auch verwirrend, da Sprecher / Hörer kaum wissen könnten, wo der Wortakzent zu realisieren sei.
Götzinger unterscheidet unterschiedliche Typen von Komposita,
1 „unächte Zusammensetzungen“
2 Komposita mit „Auslassung“
3 „echte“ Komposita
4 „elliptische“ Komposita
Ad 1. In „unächten Zusammensetzungen“ bleibt die Flexionsmarkierung erhalten, und ihr Sinn ist über eine Dekomposition direkt zugänglich, z.B.:
(22) Landesverräther; Lebensart
die direkt in Verräther des Landes, Art des Lebens (G I: 751) auflösbar sind.
Ad 2. In Komposita mit „Auslassung“ werden Formative nicht realisiert, die einen Sinn explizieren würden, der für das Verständnis als unnötig empfunden wird, z.B.
(23) Fußweg statt Fußgängerweg
(24) Spritzenhaus statt Feuerlöschgeräthschaftenmagazin (G I: 756)
Ad 3. Bei „echten“ Komposita nimmt Götzinger wiederum einen semantischen „Verschmelzungsprozess“ an, der darauf beruht, dass die Formative für die Sprecher eine „Innigkeit des Sinns“ darstellen, der einem einzigen Konzept entspricht. Der Sinn dieser Komposita lässt sich daher nur noch schwer oder gar nicht mehr aus der Komposition erschließen, z.B.:
(25) Handschuh
(26) Meerschwein (G I: 751)
Ad 4. Elliptische Komposita entsprechen Adjektiv-Nomen-Komposita, die heute auch als exozentrisch bezeichnet werden, da das Basisformativ nicht der bezeichneten Entität entspricht. Götzinger nennt sie elliptisch, da „das tragende Wort“ nicht explizit sei. Typischerweise handelt es sich um Komposita, die Tiere oder Menschen über eine bestimmte Eigenschaft identifizieren oder qualifizieren, z.B.:
(27) Rotkehlchen
(28) Dickbauch
(29) Stumpfnase
(30) Langhand (G I: 769)
Man kann so verstehen, wieso Götzinger in einem Kapitel zur Ellipse als rhetorischer Figur schließlich ihre Funktion der Hervorhebung betont, die aber auch auf die anderen oben vorgestellten kurzen Formen hier übertragbar zu sein scheint. Kurze Formen ermöglichen es den Sprechern, nur explizit zu realisieren, was ihre Aussagen tatsächlich motiviert und informativ Sekundäres, Uninteressantes, vom Hörer / Leser Erschließbares oder im Kontext Vorhandenes nicht zu realisieren.
So heißt es auch bei Götzinger (1836: 776) in Bezug auf Komposita: Mit diesen kurzen Formen vermeiden wir „unnöthige Deutlichkeit“, die eine gelungene Kommunikation behindern würde.1
Wenn man nun beide Werke miteinander vergleicht, wird deutlich, dass sich die Behandlung kurzer Formen und die Bewertung ihrer diskursiv-kommunikativen Funktionen sehr unterscheiden: Bei Hempel spiegeln sich die zeitgenössischen Topoi der Deutlichkeit und Bestimmtheit in einer hyperkorrektiven Forderung nach maximaler Expliziertheit, die relativ gut die zeitgenössischen Positionen deutscher Grammatiker widerspiegelt (vgl. Spitzl-Dupic 2016), die hier jedoch außergewöhnlich detailliert entwickelt wird. Götzingers Ansatz dagegen, der Sprecher- und Hörerperspektive integriert, kommunikative Funktionen unterschiedlicher kurzer bzw. kürzerer Formen zu identifizieren versucht, die Rolle des Kontextes einbezieht und eine Varietät grammatischer Strukturen für kurze Formen aufgrund relativ stringenter formaler Kriterien unterscheidet, ist der Höhepunkt einer pragmatischen Ausrichtung, die in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzt. Sie spiegelt aber, im Gegensatz zu Hempels Ausführungen, nur einen Ausschnitt des zeitgenössischen Sprachdenkens wider, der besonders von der historischen Grammatik bald „übertönt“ wird und erst zur Jahrhundertwende wieder Bedeutung erlangt (vgl. Spitzl-Dupic 2016).
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