Tillon ist es gelungen, sich nicht von den Schwächen der Engländer anstecken zu lassen, die da sind gemäss Pilet: «übertriebenes Phlegma, Glätte und Schwermut ihrer Gesichter, ihre Schlaksigkeit und ihre wenig geschmeidige Eleganz».
Nein, was Sie von Ihnen mitgenommen haben oder besser was Sie mit ihnen gemeinsam haben, sind Ihre warme, zärtliche und beinahe heilige Verehrung für das Heim, für die eigenen vier Wände, das Zuhause. Und es sind alle diese feinen und delikaten Qualitäten, die «meine Tillon» zum köstlichen Engel machen!
Home, sweet home . Romantischer Überschwang und klischeehafte Völkerpsychologie, wie sie vor über hundert Jahren gang und gäbe war. Immer wieder malt Marcel sich aus, was einmal sein wird. Er sieht eine umsorgende, liebevolle Gattin – Tillon natürlich –, einen Sohn, den er sich wünscht, seit er fünfzehn ist, vielleicht auch eine grössere Familie, ein gemütliches, geschmackvoll ausgestattetes, gastfreundliches Heim, einen Kreis von Freunden, Erfolg im Beruf. Ein brillanter Anwalt will er werden, doch zweifelt er an den eigenen intellektuellen und rednerischen Fähigkeiten.
Ich habe normalerweise wenig Vertrauen in mich und erwarte eher, etwas falsch zu machen, als beim ersten Anlauf erfolgreich zu sein. Ich weiss nicht wieso, aber ich misstraue meinem Hirn, meinem Gedächtnis, meiner Logik und meiner Intelligenz ganz schrecklich.
Eine Vorlesung Strohals macht Pilet Mut. Als der eminente Professor ein verzwicktes juristisches Problem zur Diskussion stellt, schweigen im Hörsaal alle deutschen Studenten, «wie übrigens fast immer, wenn man sie etwas fragt». Darauf liest Strohal den fraglichen Gesetzesartikel vor und räumt ein, dass dieser auf ersten Blick «völlig unverständlich» sei. Dies erstaunt wiederum den Hörer Pilet, der zwar auch schweigt, weil sein Deutsch zum Reden nicht ausreicht, der aber längst begriffen hat, worum es in dem Artikel geht. Dies beruhigt ihn: Sein «kleines juristisches Lausanner Gehirn» hat ein gutes Rechtsverständnis und eine innere Stimme sagt ihm:
Hé, hé , dereinst wirst du kein mittelmässiger Anwalt sein, dem alle und vor allem die Klienten davonlaufen. Alles in allem wirst du eine gefragte Kanzlei und ein gut ausgestattetes Büro aufziehen können.
Dies wird ihm erlauben, in Ruhe und nach eigenem Gutdünken zu leben. Nicht, dass ihm etwas daran liegt, reich zu sein – er glaubt nicht, dass Geld glücklich macht. Mittelmässigkeit hingegen, schreibt Pilet, bringt Schwierigkeiten und Kummer, während ein gewisser Wohlstand die Existenz erleichtert und ermöglicht, andern gegenüber grosszügig zu sein. Was Pilet vorschwebt, ist ein ausgefülltes Leben an der Seite seiner Tillon.
Bei einem seiner Spaziergänge im Park sieht er ein elegantes Reiterpaar einträchtig Seite an Seite galoppieren. Nachher begegnet er den beiden im Restaurant:
Zwei schöne Alte, ein noch frischer und glücklicher Frauenkopf mit sehr weissem Haar, ein energisches und starkes Männergesicht, der Bart schneefarben, die sich gegenseitig zulächeln wie im Frühling ihres Jahrs! Ah, wenn man bloss in vierzig oder fünfzig Jahren auf dem trauten Quai von Ouchy am Arm eines alten Advokaten eine kleine graue, sogar weisse Tillon sehen könnte – die immer noch lächelt, auf die Hand vertraut, die die ihre drückt, auf die Schulter, auf die sie sich stützt. Und er ist immer noch glücklich über die schönen Augen, die ihm Kraft und Mut geben!
Spaziergänger Marcel sucht gerne am nächtlichen Leipziger Himmel den Abendstern, den Tillon und Marcel «unseren Stern» nennen. Ein Stern, der sie durch die Fährnisse des Lebens führen wird. Un guide sûr et confiant , wie er schreibt.
In dunkelster Stunde neunundzwanzig Jahre später, am 25. Juni 1940, wird Bundespräsident Pilet-Golaz dasselbe Bild gebrauchen, wenn er seine Miteidgenossen auffordert, der Regierung als un guide sûr et dévoué zu folgen. Ein amtlicher Übersetzer wird guide – zwar korrekt, aber höchst ungeschickt – mit «Führer» übersetzen.
Marcel und Tillon lieben die Musik. Sie spielt Klavier, er Geige. Beide mittelmässig, wie sie zugeben. Marcel hat spät mit Geigenspiel angefangen und es beim Üben an Fleiss und Ausdauer fehlen lassen. Zudem hat er sich vor zwei Jahren bei einem Sturz vom Ross das Handgelenk gebrochen. Eine dabei entstandene Schwiele stört das heikle Muskel- und Fingerspiel und so weiss Marcel, dass er keine Fortschritte mehr machen wird. Bereits nach einer halben Stunde verweigert das brennende Handgelenk jedes schnelle Spielen und jedes weitere Üben wird zur Qual.
Glücklicherweise gibt es genug leichte Meisterwerke, die Marcel und Tillon dereinst zusammen spielen können, wobei sie fehlende Brillanz durch Herz wettmachen werden. Manch eine wunderbare Arie von Bach, ein Rondo von Mozart oder ein Wiegenlied sind in Marcels Augen mehr wert als viele «schwierige und zu lange» Concertos. Marcel stellt sich vor, wie Freunde das Paar Tillon und Marcel in ihrem künftigen Heim besuchen und mit ihnen musizieren werden: Henry mit seiner «superben» Baritonstimme, Cousin Pierre, der «Lausannes bester Violinist werden wird, wenn er es nicht schon ist», und Louis Déverin, seit Jahren vielleicht Marcels engster Freund, ein Pianist ersten Ranges.
Schon in Lausanne ist Marcel immer ins Konzert gegangen. Auch in Deutschland lässt er sich keine musikalischen Darbietungen entgehen, selbst wenn, wie bei seiner Durchreise durch München, gerade keine Oper oder kein Sinfoniekonzert auf dem Programm steht. Faute de mieux hörte er sich in München les petits concerts in den Wirtschaften an. Das Beste dabei war für ihn «unsere kleine französische Musik und die Wiener Walzer». Er musste leider auch die «Münchner Fantasien» über sich ergehen lassen – «die fantastischsten, vulgärsten, krassesten, grässlichsten, die ich je gehört habe». In diesem Stück wurde die larmoyante Geschichte «eines von einer Oboe umsäuselten verliebten Mädchens» entweder von einem Pistolenschuss oder vorzugsweise vom Pfeifen eines Trams oder dem Trompetenstoss eines Automobils untermalt. Man belehrt Pilet, dies sei die «wahre Musik, modern, realistisch». Sein Verdikt: «Nicht realistisch, nicht modern und nicht wahr. Keine Musik.»
In seinen Leipziger Monaten kommt Pilet hingegen auf seine Rechnung:
Soeben, um zwei Uhr, ging ich, neugierig und unerfahren, in die Kirche St. Thomas, deren früher von Bach dirigierter Chor noch heute jeden Samstag die Motetten ihres ehemaligen Meisters oder von neuen Komponisten vorträgt. Und dort in einer alten hohen Kirche mit einer reichen, aber nicht übertriebenen Verzierung und von Geschmack, der nicht sicherer sein könnte, sang uns, unterstützt von der feierlichen Orgel, ein gemischter Chor aus jungen Burschen und gestandenen Männern – nicht eine Frauenstimme – Bachs «Vergiss mein nicht», übrigens friedlich und glücklich, und «Göttliches Misericordia», eine wahrhafte schöne und tiefe Motette von Durante, einem mir bisher unbekannten Italiener.
Pilet entdeckt Wagner, von dessen Opern er zuvor wie «die meisten Lausanner, die nie aus ihrer kleinen und reizenden Stadt herausgekommen sind», nur die Ouvertüren, Partituren, und Klavierarrangements gekannt hat. Welche Offenbarung, nun alles zu sehen, zu hören, zu erfassen. Zwar lassen ihn bei Wagner gewisse Stellen kalt, aber wenn «es schön ist, ist es schön».
Es ist schön ohne Vorbehalt, ohne Mass, von einer absoluten Schönheit, so dass man lange bleibt, ohne sich zu regen, und sich von diesen Strömen von Pracht, Leidenschaft und Liebe erfüllen lässt.
Pilet hat ein Studentenabonnement für die ersten zehn, in Leipzig komponierten Opern Wagners gekauft und ist beeindruckt von der Qualität der Vorstellungen. Ein Schönheitsfehler in der Aufführung von «Tannhäuser»: Der Heldentenor hat zwar eine volle, einstudierte Stimme, aber seine abgehackte Phrasierung, seine lächerlichen Gesten und sein Zirkusheroismus stören Pilet derart, dass er jedes Mal, wenn Tannhäuser auf der Bühne erscheint, die Augen schliesst, um so die herrliche und tiefe Musik geniessen zu können.
Читать дальше