Gerne schlendert Pilet durch den nahen Park, ein Veilchen oder Kleeblatt zwischen den Lippen. Wieso sich nicht aufs Gras legen? Doch, halt, hier tut man das nicht. Graue Affichen aus Karton erinnern daran, dass der Zugang zu den Wiesen und Wäldern verboten ist. Ausnahmslos jeder hält sich brav an den markierten Weg. Wehe, wenn ein simpler Fussgänger sich auf die für die Reiter oder Radfahrer reservierten Pfade verirrt! Dann salutiert ein Polizeimann und hält einem einen kleinen Zettel entgegen: eine Mark Busse. Für die Deutschen ist Gesetz Gesetz. Als Jurist und Leutnant begreift Pilet dies, aber sein anderes Ich – der Waadtländer, der Bellettrien, der Flaneur, der Müssiggänger – findet es beschämend. Man soll doch die Leute nicht zwingen, «einer in der Hosentasche des andern zu marschieren».
Hier begegnet man nur «Folgen». Folgen von Kutschen, Folgen von Autos, Folgen von Soldaten, Folgen von Fabriken, Folgen von Regentagen und Folgen von Deutschen, was das Schlimmste ist! Kein Entrinnen, ich sage es Ihnen. Und die unglückliche Folge aller dieser Folgen ist, dass man selber ihrer Folge folgt.
Die deutschen Frauen? Gewiss, Pilet begegnet solchen, die ihm gefallen. Sein Pauschalurteil allerdings ist nicht schmeichelhaft:
Die Frauen von hier sind hässlich, unelegant, linkisch, ungehobelt, dumm und haben alle grosse Füsse. Ich will mich gar nicht über ihre Reize verbreiten, die fehlen ihnen total.
Den verwöhnten Romand stören ihre «extravagante und lächerliche Kleidung» und «ihre allzu befriedigten Lachausbrüche». Wenn er in Leipzig eine Frau mit kleinen Füsschen entdeckt, ist sie garantiert eine Französin. Und wenn er ihr und ihrem compagnon zuhört, wie sie im «Französischsten des Französischen» herzlich miteinander plaudern, wird ihm warm ums Herz.
Eines Abends, bei seiner Heimkehr durch den Park, erlebt er eine der «charakteristischsten und auch der komischsten Dinge in diesem Deutschland, das ich entdecke». Er schaut fünf oder sechs Mädchen beim Spielen zu. Spielen sie, wie in der Schweiz, «Schule» – eine ist die Lehrerin, die den Schülerinnen auf die Finger klopft, weil sie nichts wissen? Nein, die deutschen Mädchen spielen nicht «Schule» und sie spielen auch nicht «Krämerladen» und schon gar nicht «Mutter, die das Bébé wiegt». Nein, Tillon wird es nicht glauben:
Die Mädchen spielen Soldaten. Eine gibt den Korporal und mit einer strengen und höchst groben Stimme instruiert sie ihre bewegungslosen und zitternden Rekrutinnen in der «Achtung steht!»-Stellung. Deutschland, Deutschland, was machst du mit deinen Kindern! Und, wenn man das gesehen hat, versteht man, dass, wenn sie gross sind, überzeugt singen: «Deutschland über alles».
Die teils wörtliche zitierten Leipziger Impressionen – «Leipziger Lerchen» sind wie die «Basler Läckerli» ein beliebtes Gebäck – stammen aus der Masse von Briefen, die Marcel Pilet seiner Tillon, wie er Tillette jetzt nennt, zwischen 1909 und 1918 schrieb und die die verwitwete Mme Pilet-Golaz Jahrzehnte später in einem grossen Lederkoffer mit ins Altersheim mitgenommen hat. Die eigenen Briefe hat sie fast alle vernichtet. Auf einem noch geschlossenen Couvert steht à brûler .
Marcel Pilet ist ein methodischer Mensch, der die Routine mag und sie nötig hat – ein homme d’habitude , wie er von sich sagt. Zeit seines Lebens wird er ein Gewohnheitsmensch bleiben, der es hasst, wenn man seine Kreise stört. In Leipzig, am Abend nach getanem Tagewerk, trinkt er einen dampfenden Tee, spielt seine Lieblingsmelodien auf der Geige, spielt Mozart für seine Tillon. Wenn er in Gedanken Tillon ganz nahe bei sich spürt, sucht er Stellen in einem ihm lieben Buch heraus und
mit meiner Stimme der grossen Abende, der grossen Erfolge, lese ich sie Ihnen aus vollem Herzen vor. Ich verspreche Ihnen, dass ich selten so gut gelesen habe und dass ich weder Ihnen noch sonst jemandem je wieder so gut vorlesen werde. Denn ich lege meine ganze Seele, meine ganze Natürlichkeit hinein, ohne Raffinesse, ohne irgendwelche Pose.
Was liest er vor? Zum Beispiel Der Jongleur von Notre-Dame von Anatole France, die Geschichte eines zum Mönch gewordenen ehemaligen Strassenartisten, der vor dem abgeschiedenen Altar der Heiligen Jungfrau seine allerbesten Kunststücke aufführt. Ganz allein, ohne Publikum, nur für die Verehrte. Genau das, was Marcel tut, wenn er für Tillons Foto rezitiert.
Nachher nimmt Marcel seine Feder, um brieflich mit Tillon zu «plaudern». Während einer halben oder ganzen Stunde bringt er seine Gedanken über Gott und die Welt zu Papier – auf sorgfältig römisch nummerierten feuillets , Blättern in Oktavformat. Er macht sich selber lustig über seinen «epistolaren Enthusiasmus», der seine Feder ungebremst laufen lässt. Jeweils am Montag beginnt er mit seinen Aufzeichnungen und am Sonntag bringt er die meist 36 Seiten auf die Post.
In den Briefen geht er manchmal schonungslos mit seinen eigenen Fehlern ins Gericht. Er gesteht, dass er gerne aufbraust und Leute mit bösen Bemerkungen verletzt. Einen Monat und einen Tag nach der heimlichen Verlobung mit Tillon in St-Sulpice macht er ihr ein schmerzliches Geständnis:
Am gestrigen Nachmittag bin ich aus weiss nicht welcher Fatalität (wenn ich nur daran glauben könnte) der feigste und willensschwächste aller Marcels gewesen. Sie wissen, dieses zweite Ich, von den ich Ihnen manchmal mit einer verschwommenen Angst geredet habe und das mich erschreckt; dieses unbezähmbare ich, das meinen Willen vernichten möchte und das oft kaum zum Schweigen gebracht werden kann – eh! Bien , dieses Ich, dieses abscheuliche und verabscheute Ich, hat gestern, am 15. Mai, über mich als Herr geherrscht! Oh, wie, worin? Dies sind Dinge, die man nicht schreiben kann und die ich Ihnen später, um es zu bezwingen, erzählen werde. Es war nichts sehr, sehr Hässliches, aber trotzdem etwas Hässliches und an einem Tag wie diesem war es beschämend. Sie fragen sich vielleicht, warum ich das sage, wieso ich ihnen dieses peinliche Geständnis mache? Eben gerade, weil es peinlich ist, weil der wahre Marcel, wenn er die Oberhand gewinnt, wenn sein Wille endlich siegt, dies sofort ausnützt, um diesen anderen, gelegentlichen Marcel zu strafen, zu demütigen, zu töten. Und wenn Sie, Tillon, was ich nicht hoffe, später je diesen schlechten Charakter wahrnehmen sollten, zeigen Sie ihm Ihre Abneigung und zerstampfen Sie ihn ohne Mitleid und ohne Reue am Boden – ich bitte Sie darum.
Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Wohl eher der junge Werther in Leipzig. Es sei den Psychologen überlassen, den bösen «anderen» Marcel zu analysieren und herauszufinden, was das «Hässliche» gewesen sein mag, das er am Nachmittag des 15. Mai 1911 verbrochen hat.
Pilet ist oft einsam. In Leipzig hat er weder Familie noch Freunde und er bemüht sich auch nicht, neue Freundschaften zu schliessen. Höhepunkt der Woche ist der Sonntagmorgen, wenn der Briefträger einen lilafarbenen Umschlag mit einem langen Brief von Tillon bringt. Einmal erhält Marcel von Tillon Blumen zugeschickt, in einer alten Papierschachtel mit der Aufschrift «Derby», die «einen kleinen Hauch von jenseits des Kanals» vermittelt:
Tillon, Sie haben für mich etwas Englisches, den hohen Hals, die recht eng geschlossene Taille, Ihre leichten goldenen Haare, aber vor allem Ihr zartes Lächeln, gleichzeitig fröhlich und träumerisch. Eine Träumerei im Nebel, die weit über das Land hinaussieht, wie eine mauve Sonne sich durch den Dunst hindurch senkt. All dies ist englisch! Sie haben von den Engländern mitgenommen, was sie an Graziösem, an Leichtem, an Frankem und Freiem haben, alles, was die Engländer vom französischen Blut behalten haben, würde ich sagen, und darüber hinaus, diese solide und gesunde Grundlage, die Vertrauen schafft und die den Charme und die Schönheit dieser angelsächsischen Charaktere ausmacht.
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