Hanspeter Born - Politiker wider Willen

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Der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende, hochbegabte, literarisch und künstlerisch interessierte Marcel Pilet ergreift entgegen seiner eigentlichen Vorlieben den Anwaltsberuf und geht in die Politik. Nach kurzer, erfolgreicher Tätigkeit im Nationalrat wird Pilet-Golaz, wie er sich nun nennt, mit noch nicht vierzig Jahren als Verlegenheitskandidat in den Bundesrat gewählt. Dank seines soliden juristischen Wissens, seiner militärischen Kenntnisse und seines bon sens übt er einen gewichtigen Einfluss auf die Schweizer Politik aus. Allerdings bringen viele Deutschschweizer dem verschlossenen, romantischen und mit bissiger Ironie gesegneten Waadtländer nur wenig Verständnis entgegen, als er 1940 als Bundespräsident die Geschicke des Lands in die Hand nimmt. «Politiker wider Willen» ist der erste Teil einer auf drei Bände geplanten Biographie Marcel Pilet-Golaz.

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Hanspeter Born

Politiker wider Willen

Pilet-Golaz, Schöngeist und Pflichtmensch

Impressum 2020 Münster Verlag GmbH Basel Alle Rechte vorbehalten Kein Teil - фото 1

Impressum

© 2020 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlagsgestaltung: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Umschlagsbild: G. Schuh, Zürich
Satz: Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld
Korrektorat: Manu Gehriger
Verwendete Schriften: Tundra, Intervogue

ISBN 978-3-907301-12-8

eISBN 978-3-907301-19-7

www.muensterverlag.ch

Inhalt

1.Die Lehrerin und der Gemeindeschreiber

2.Kinderjahre

3.Vom kleinen Cossonay ins grosse Lausanne

4.Musterschüler

5.Ein Hauch von Phantasie

6.Pareto

7.Die Bühne ruft

8.Führungsschule

9.Eine Demoiselle aus Orbe

10.Romanze

11.Leipziger Lerchen

12.«Ich will keine Politik machen»

13.Eifersucht

14.Berliner Luft

15.Ein deutscher Sommer

16.Henry

17.Paris

18.Baurecht

19.Ende einer Epoche

20.An der Grenze

21.Politik après tout

22.Landesstreik

23.Die Treppe hinauf

24.Stich ins Wespennest

25.In der Bundesstadt

26.Der Dauphin ist gefunden

27.Schwanengesang einer historischen Figur

28.Lehrgeld

29.Eine geprüfte Ehefrau

30.Die Nachfolgefrage

31.Gewählt und gefeiert

32.Kleine Geschäfte

33.Departementswechsel

34.Krieg der Häuptlinge

35.Service public

36.Privates

37.Kampf um die AHV

38.Ein Bauernhaus im Waadtland

39.Dichter müsste man sein

40.Pilet-Cervelat

41.Die Schüsse von Genf

42.Ungute Nachrichten aus dem Norden

43.Liberalismus gegen Etatismus

44.Ein Schauprozess?

45.Harus!

46.Sticheleien

47.Disziplin muss sein

48.Abfuhr für den Bundesrat

49.Regierungskrise nach Schweizerart

50.Etter kommt

51.Chef und Mitarbeiter

52.Die Sowjets in Genf

53.Das Präsidialjahr geht zu Ende

54.Si vis pacem para bellum

55.Freche Nazis

56.Berg-und-Tal-Fahrt

57.Wie die Demokratie verteidigen?

58.Stimmungstief

59.Dunkle Gewitterwolken über Europa

60.Gesucht: SRG-Generaldirektor

61.«Der Franken bleibt ein Franken»

62.Eine Busspredigt

63.Böses Zerwürfnis

64.Ein ehrgeiziges Projekt wird gebremst

65.Post tenebras lux

66.Stucki nach Paris

67.Der Bundesrat wehrt sich

68.Grimm zur SBB?

69.Motta will Frölicher in Berlin

70.Mit fliegenden Fahnen

71.Waffenstillstand mit Henry

72.Anschluss

73.Ja zum Strafgesetzbuch

74.München

75.Telefonüberwachung

76.Orchesterkrieg

77.Ein Deal mit Bratschi

78.High Noon

79.Neun statt sieben?

80.Vallotton träumt von Afrika

81.Die Landi

82.Stille vor dem Sturm

83.Countdown zum Krieg

Personenverzeichnis

«Parlons franc: nous le plaignons (Giuseppe Motta), comme nous plaignons tous nos conseillers fédéraux. Il faut les voir à l'oeuvre pour juger de l'abnégation, de la patience, du civisme qui leur est nécessaire, la somme énorme de travail qu'ils doivent fournir, du peu de reconaissance qu'ils requeillent et des maigres satisfactions de leur existence, si ce n'est celle du devoir accompli.»

(Marcel Pilet-Golaz, Manuskript für La Revue, 24. Juni 1927)

1. Die Lehrerin und der Gemeindeschreiber

Cossonay erhebt sich auf einem felsigen Hügel, 150 Meter über der Ebene des Gros de Vaud , des fruchtbaren waadtländischen Mittellands. Im ausgehenden 19. Jahrhundert leben die rund tausend Einwohner des malerischen Städtchens hauptsächlich von Handel und Landwirtschaft. Auf den von Läden und Handwerkerbuden umsäumten mittelalterlichen Strassen herrscht reges Treiben. Vier Gasthöfe, drei Cafés und zwei Pinten sorgen für das leibliche Wohl von Einwohnern und Besuchern. Der jeweils auf vier Jahre gewählte fünfköpfige Gemeinderat, die Municipalité , präsidiert vom syndic , dem Stadtpräsidenten, überwacht den Gang der Dinge.

Im Laufe des Jahres 1888 prüfen die Gemeindeväter ein elektrisches Beleuchtungssystem, verkaufen für 10 000 Franken die Dorfmetzgerei, verbieten wegen der verursachten «Unordnung, dem Skandal und der Friedensstörung» die nächtlichen Versammlungen der Heilsarmee. Sie büssen einen Dragoner mit zwei Franken, da dieser mitten in der Stadt «sein Pferd eine Gangart hat anschlagen lassen, welche die öffentliche Sicherheit gefährdete», und verwarnen drei Bauern, die am heiligen Sonntag Heu auflasen. Ein anderer Missetäter muss 20 Franken Busse zahlen: Er hatte auf der Rue de Derriére la Place zwei Hühner herumflattern lassen. Ordnung muss sein. Man schaut aufs Geld in Cossonay. Auch kleine Ausgaben muss der Gemeinderat bewilligen. Immerhin beschliesst er den Kauf eines Ofens für die Wohnung für Mlle Schenk, régente , im Petit Collège .

Régente nennt man in der Waadt die Lehrerinnen und das 25-jährige Fräulein Ella Schenk unterrichtet die unteren Klassen. Das Petit Collège, das als Schulhaus dient, ist ein umgebautes Spital aus dem 15. Jahrhundert.

Mademoiselle wohnt im Petit Collège, einem im 15. Jahrhundert gebauten, später von der Stadt erstandenen geräumigen Wohnhaus, das einst als Spital und dann als Schulhaus diente. Schon aus weiter Ferne erkennt man das hoch oben in Cossonay stehende Gebäude an seinem Türmchen. Der Gemeinderat liess dieses aufrichten, als der altehrwürdige Zeitglocken am Stadtrand abgerissen wurde und er für die wertvolle antike Turmuhr ein neues Heim finden musste. Jeden Morgen läutet jetzt der Gemeindepolizist die Glocke im Petit Collège, um den Beginn der Schulstunden anzukündigen.

In Cossonay hat sich längst herumgesprochen, dass die allseits beliebte Lehrerin Ella Schenk einen flotten jungen Verehrer hat, den 22-jährigen Edouard Pilet. Dieser Edouard Pilet wird am Heiligen Abend 1888 überraschend vom Gemeinderat als Nachfolger für den plötzlich verstorbenen langjährigen Amtsinhaber zum neuen secrétaire municipal oder Gemeindeschreiber gewählt. Pilet, unternehmungsfreudig und ehrgeizig, ist vier Jahre zuvor als 18-Jähriger ins Städtchen gezogen, wo er den Beruf eines commis procureur oder agent d’affaires ausübt. So nennen die Waadtländer von alters her juristische Berater ohne Universitätsabschluss, die für ihre Mandanten treuhänderische Aufgaben übernehmen und sie in zivilrechtlichen Angelegenheiten vor Gericht vertreten können. Der ehrgeizige, umtriebige Zuzüger Pilet muss seinen Mitbürgern vorteilhaft aufgefallen sein. Nicht jeder bringt es zum secrétaire municipal .

Fünf Tage später wird «vor der Munizipalität in corpore» zur Vereidigung des neuen Gemeindeschreibers geschritten. Das Protokoll berichtet:

Monsieur Pilet tritt in die Sitzung ein. Monsieur le syndic liest ihm das feierliche Versprechen vor, worauf Monsieur Pilet mit den Worten antwortet: «Ich verspreche es.»

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