Hanspeter Born
Pilet-Golaz, Schöngeist und Pflichtmensch
Impressum
© 2020 Münster Verlag GmbH, Basel
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.
Umschlagsgestaltung: |
Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld |
Umschlagsbild: |
G. Schuh, Zürich |
Satz: |
Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld |
Korrektorat: |
Manu Gehriger |
Verwendete Schriften: |
Tundra, Intervogue |
ISBN 978-3-907301-12-8
eISBN 978-3-907301-19-7
www.muensterverlag.ch
1.Die Lehrerin und der Gemeindeschreiber
2.Kinderjahre
3.Vom kleinen Cossonay ins grosse Lausanne
4.Musterschüler
5.Ein Hauch von Phantasie
6.Pareto
7.Die Bühne ruft
8.Führungsschule
9.Eine Demoiselle aus Orbe
10.Romanze
11.Leipziger Lerchen
12.«Ich will keine Politik machen»
13.Eifersucht
14.Berliner Luft
15.Ein deutscher Sommer
16.Henry
17.Paris
18.Baurecht
19.Ende einer Epoche
20.An der Grenze
21.Politik après tout
22.Landesstreik
23.Die Treppe hinauf
24.Stich ins Wespennest
25.In der Bundesstadt
26.Der Dauphin ist gefunden
27.Schwanengesang einer historischen Figur
28.Lehrgeld
29.Eine geprüfte Ehefrau
30.Die Nachfolgefrage
31.Gewählt und gefeiert
32.Kleine Geschäfte
33.Departementswechsel
34.Krieg der Häuptlinge
35.Service public
36.Privates
37.Kampf um die AHV
38.Ein Bauernhaus im Waadtland
39.Dichter müsste man sein
40.Pilet-Cervelat
41.Die Schüsse von Genf
42.Ungute Nachrichten aus dem Norden
43.Liberalismus gegen Etatismus
44.Ein Schauprozess?
45.Harus!
46.Sticheleien
47.Disziplin muss sein
48.Abfuhr für den Bundesrat
49.Regierungskrise nach Schweizerart
50.Etter kommt
51.Chef und Mitarbeiter
52.Die Sowjets in Genf
53.Das Präsidialjahr geht zu Ende
54.Si vis pacem para bellum
55.Freche Nazis
56.Berg-und-Tal-Fahrt
57.Wie die Demokratie verteidigen?
58.Stimmungstief
59.Dunkle Gewitterwolken über Europa
60.Gesucht: SRG-Generaldirektor
61.«Der Franken bleibt ein Franken»
62.Eine Busspredigt
63.Böses Zerwürfnis
64.Ein ehrgeiziges Projekt wird gebremst
65.Post tenebras lux
66.Stucki nach Paris
67.Der Bundesrat wehrt sich
68.Grimm zur SBB?
69.Motta will Frölicher in Berlin
70.Mit fliegenden Fahnen
71.Waffenstillstand mit Henry
72.Anschluss
73.Ja zum Strafgesetzbuch
74.München
75.Telefonüberwachung
76.Orchesterkrieg
77.Ein Deal mit Bratschi
78.High Noon
79.Neun statt sieben?
80.Vallotton träumt von Afrika
81.Die Landi
82.Stille vor dem Sturm
83.Countdown zum Krieg
Personenverzeichnis
«Parlons franc: nous le plaignons (Giuseppe Motta), comme nous plaignons tous nos conseillers fédéraux. Il faut les voir à l'oeuvre pour juger de l'abnégation, de la patience, du civisme qui leur est nécessaire, la somme énorme de travail qu'ils doivent fournir, du peu de reconaissance qu'ils requeillent et des maigres satisfactions de leur existence, si ce n'est celle du devoir accompli.»
(Marcel Pilet-Golaz, Manuskript für La Revue, 24. Juni 1927)
1. Die Lehrerin und der Gemeindeschreiber
Cossonay erhebt sich auf einem felsigen Hügel, 150 Meter über der Ebene des Gros de Vaud , des fruchtbaren waadtländischen Mittellands. Im ausgehenden 19. Jahrhundert leben die rund tausend Einwohner des malerischen Städtchens hauptsächlich von Handel und Landwirtschaft. Auf den von Läden und Handwerkerbuden umsäumten mittelalterlichen Strassen herrscht reges Treiben. Vier Gasthöfe, drei Cafés und zwei Pinten sorgen für das leibliche Wohl von Einwohnern und Besuchern. Der jeweils auf vier Jahre gewählte fünfköpfige Gemeinderat, die Municipalité , präsidiert vom syndic , dem Stadtpräsidenten, überwacht den Gang der Dinge.
Im Laufe des Jahres 1888 prüfen die Gemeindeväter ein elektrisches Beleuchtungssystem, verkaufen für 10 000 Franken die Dorfmetzgerei, verbieten wegen der verursachten «Unordnung, dem Skandal und der Friedensstörung» die nächtlichen Versammlungen der Heilsarmee. Sie büssen einen Dragoner mit zwei Franken, da dieser mitten in der Stadt «sein Pferd eine Gangart hat anschlagen lassen, welche die öffentliche Sicherheit gefährdete», und verwarnen drei Bauern, die am heiligen Sonntag Heu auflasen. Ein anderer Missetäter muss 20 Franken Busse zahlen: Er hatte auf der Rue de Derriére la Place zwei Hühner herumflattern lassen. Ordnung muss sein. Man schaut aufs Geld in Cossonay. Auch kleine Ausgaben muss der Gemeinderat bewilligen. Immerhin beschliesst er den Kauf eines Ofens für die Wohnung für Mlle Schenk, régente , im Petit Collège .
Régente nennt man in der Waadt die Lehrerinnen und das 25-jährige Fräulein Ella Schenk unterrichtet die unteren Klassen. Das Petit Collège, das als Schulhaus dient, ist ein umgebautes Spital aus dem 15. Jahrhundert.
Mademoiselle wohnt im Petit Collège, einem im 15. Jahrhundert gebauten, später von der Stadt erstandenen geräumigen Wohnhaus, das einst als Spital und dann als Schulhaus diente. Schon aus weiter Ferne erkennt man das hoch oben in Cossonay stehende Gebäude an seinem Türmchen. Der Gemeinderat liess dieses aufrichten, als der altehrwürdige Zeitglocken am Stadtrand abgerissen wurde und er für die wertvolle antike Turmuhr ein neues Heim finden musste. Jeden Morgen läutet jetzt der Gemeindepolizist die Glocke im Petit Collège, um den Beginn der Schulstunden anzukündigen.
In Cossonay hat sich längst herumgesprochen, dass die allseits beliebte Lehrerin Ella Schenk einen flotten jungen Verehrer hat, den 22-jährigen Edouard Pilet. Dieser Edouard Pilet wird am Heiligen Abend 1888 überraschend vom Gemeinderat als Nachfolger für den plötzlich verstorbenen langjährigen Amtsinhaber zum neuen secrétaire municipal oder Gemeindeschreiber gewählt. Pilet, unternehmungsfreudig und ehrgeizig, ist vier Jahre zuvor als 18-Jähriger ins Städtchen gezogen, wo er den Beruf eines commis procureur oder agent d’affaires ausübt. So nennen die Waadtländer von alters her juristische Berater ohne Universitätsabschluss, die für ihre Mandanten treuhänderische Aufgaben übernehmen und sie in zivilrechtlichen Angelegenheiten vor Gericht vertreten können. Der ehrgeizige, umtriebige Zuzüger Pilet muss seinen Mitbürgern vorteilhaft aufgefallen sein. Nicht jeder bringt es zum secrétaire municipal .
Fünf Tage später wird «vor der Munizipalität in corpore» zur Vereidigung des neuen Gemeindeschreibers geschritten. Das Protokoll berichtet:
Monsieur Pilet tritt in die Sitzung ein. Monsieur le syndic liest ihm das feierliche Versprechen vor, worauf Monsieur Pilet mit den Worten antwortet: «Ich verspreche es.»
Читать дальше