Sommerferien? In seiner Gymnasialzeit verbrachte Marcel zweimal sechs Wochen in der Deutschschweiz, einmal bei einem Gärtner auf dem Zürichberg. Das «stattliche Dorf im Berner Mittelland», von dem er als Bundespräsident 1934 in seiner 1.-August-Rede erzählen wird, war vermutlich der Bucheggberg —, auch wenn dieser im Kanton Solothurn liegt und bloss an den Kanton Bern grenzt:
Den ganzen Tag an der Arbeit, wie es sich gehört. Die Sense und der Rechen pfiffen und quietschten in der blonden Ernte. Unter der Last ächzend, die Garben golden schimmernd, kehrten die schweren Wagen zurück. Unter der brennenden Sonne schnauften und scharrten die von Mücken geplagten Gespanne vor Anstrengung. Dann plötzlich schwieg alles. Obwohl es ein Wochentag war, hatten sich die Männer rasiert. Angetan in sauberen Blusen und runden Hüten, sammelten sie sich. Die Frauen hatten ihre von der Stärke steifen Trachten mit ihren weiten kurzen Ärmeln und schweren glänzenden Ketten angezogen.
Wortlos, in stillschweigender Übereinkunft, hatte sich das ganze Dorf auf den Hügel begeben, von dem aus man die Alpen sieht. Ein alter, vom Gewitter gefällter Baum bildete den Scheiterhaufen. Gerade schoss die Flamme hoch und warf bei angebrochener Nacht Licht und Schatten auf die andächtigen Gesichter. Der Gemeindepräsident, ein trockener, ruhiger und langsamer Bauer, mahnt uns – mit der Autorität seiner fünfzig Jahre Rechtschaffenheit und Arbeit –, dass wir unseren Vorfahren viel verdanken, dass wir das, was sie für uns getan hatten, unsererseits für unsere Nachfahren tun müssen; dass unser Boden nur frei bleiben wird, wenn wir dessen würdig sind. Er sprach aus dem Herzen, er war kurz. Nachher sangen die Männer mit einer einzigen vollen, starken und ernsten Stimme «Oh, mein Heimatland, oh mein Vaterland». Das war alles. Unter den Sternen ging das Feuer aus. Die kleine Schar kehrte zu den Bauernhöfen zurück.
5. Ein Hauch von Phantasie
In der Hochkonjunktur, die 1903 beginnt und ihren Höhepunkt 1913 erreicht, ist Lausanne eine riesige Baustelle. Die alte historische Stadt muss den Bedürfnissen der neuen Zeit angepasst werden: Schaffung eines Kanalisationsnetzes, Ausdehnung des öffentlichen Verkehrs, Bau von Brücken, Untergrundpassagen, Boulevards. Alte Gebäude werden abgerissen, neue palastartige Bauten – der Palais de Rumine, der Bahnhof, die Galeries du Commerce, das Royal Hôtel in Ouchy – erheben sich und verändern das Stadtbild. Die verschiedensten Baustile – Neogotik, Neobarock, Art nouveau – wetteifern miteinander. Auffallend an der Lausanner Architektur jener Jahre sind die Suche nach Monumentalität, die raffinierte Ausstattung der Intérieurs, die reich geschmückten Fassaden. Ohne seine Geschichte zu verleugnen, will Lausanne eine moderne, elegante Grossstadt sein.
An den reizvollen Gestaden des Léman gelegen, gesegnet mit einem milden, fast mediterranen Klima, beseelt von einem reichen intellektuellen und kulturellen Leben, übt Lausanne eine magnetische Anziehungskraft auf Reisende aus aller Herren Ländern aus. Touristen strömen in seine sich rasch vermehrenden Hotels, Studenten drängen sich an seine an Ansehen gewinnende Universität und Pflegebedürftige lassen sich in Lausannes modernen Spitälern von medizinischen Kapazitäten behandeln. Von 1905 bis 1910 steigt die Zahl der Hotelübernachtungen von rund 200 000 auf rund 400 000.
Bereits im Mittelalter war der Bischofssitz Lausanne eine Stätte der Bildung und ein Begegnungsort für Gelehrte. Seine Bewohner fanden Geschmack an Kunst und Literatur. Im 18. Jahrhundert waren sie «von einem Verlangen verzehrt, zu lernen und zu glänzen», man hatte, wie ein Kritiker sagte, nicht nur «einen Hunger, sondern eine Hungersnot nach Geist.» Voltaire, einer von Lausannes berühmten Gästen, lobte die «Intelligenz seiner Bewohner, die sein Talent so gut beurteilen und seine Werke so glänzend interpretieren konnten». Der grosse englische Geschichtsschreiber Gibbon, der viele Jahre in Lausanne lebte, schätzte «den Charme dieses so gastlichen und distinguierten Milieus». Historiker Maillefer beschreibt die Lernbegierde seiner Mitbürger:
Die öffentlichen Kurse werden gestürmt; ausländische und einheimische Referenten können ihre Veranstaltungen noch so vermehren, die Zuhörer bleiben unermüdlich. Nirgends liest man mehr. Nirgends in der Schweiz werden mehr Zeitungen, Zeitschriften, Bücher gedruckt. Und dies nicht etwa zum Nachteil der Lektüre ausländischer Werke. Lausanne kauft mehr französische Bücher als eine französische Stadt von 100 000 Einwohnern.
Dreh- und Angelpunkt des Lausanner Geisteslebens ist die 1537 von Bern zum Zweck der Ausbildung reformierter Pfarrer gegründete Akademie, die im 19. Jahrhundert schrittweise zur Universität ausgebaut wurde. Dank der dort lehrenden, renommierten Professoren erlangte sie in ganz Europa einen ausgezeichneten Ruf.
Für die Familie Pilet ist es selbstverständlich, dass Marcel nach Erlangung des bachot – der Matura – ein Studium an der Lausanner Uni antritt. Wieso wählt nun aber der begabte Mathematiker und an Musik, Literatur und Theater interessierte Junior das Studium der Jurisprudenz? Vater Edouard Pilet, der aus zu bescheidenen Verhältnissen stammte, um die Universität besuchen zu können, hat sich autodidaktisch erstaunliches juristisches Wissen angeeignet. Er möchte, dass Marcel Jurisprudenz studiert und in die Politik geht. In der Waadtländer Politik führt der Weg nach oben über den Anwaltsberuf und die Studentenverbindung Helvetia. Der im Kanton hochverehrte Ruchonnet, le grand Louis , dessen Statue 1906 In Lausanne mit Pomp eingeweiht worden ist, war Advokat und Helveter gewesen. Seine unmittelbaren Nachfolger als Waadtländer Bundesräte, Ruffy und Ruchet, ebenfalls Juristen und Helveter.
Marcel fügt sich dem Wunsch des Vaters und immatrikuliert sich an der juristischen Fakultät. In einem drei Jahre nach seinem Studienbeginn verfassten Brief an Freundin Tillon behauptet Marcel allerdings, dass er sich schliesslich aus freien Stücken und Idealismus für die juristische Laufbahn entschieden habe. Er beschreibt, wie er sich nach einem nächtlichen Spaziergang zu einer einsamen ländlichen Kapelle in der Nähe von Châtel-Saint-Denis auf einen Fels gesetzt hat, «um unsere Schweizer Erde, die sich unten, in weiter Ferne ausbreitete, um Kraft und Mut zu bitten». Auf den ersten Blick hat für Marcel diese Schweizer Erde «nichts Herzliches, ist kalt, glanzlos, von den winterlichen Windstössen ein wenig schmutzig». Aber unter den Bauernhöfen und Feldern, unter dem Boden und dem gelben Gras spürt der einsame romantische Träumer die «liebende und treue Heimat, eine Art Mutter».
Und es ist eben diese heimatliche Erde, die mitgeholfen hat, ihn zum Rechtsanwalt zu machen. Er habe gezögert, schreibt er, sich lange dem «dringlichen Wunsch» seines Vaters widersetzt. Advokat schien ihm ein hohler und einfältiger Beruf. Nun las er eines Abends, «vor einem unserer Waadtländer Bauernhöfe sitzend», den heute vergessenen Roman Les Rocquevillard von Henry Bordeaux. Darin bittet ein alter Anwalt vor dem Gut seiner Familie Gott um die Kraft, tags darauf vor Gericht «gross zu plädieren». Er muss nämlich als Verteidiger seinen eigenen Sohn vor den Folgen einer «verruchten Vergangenheit» schützen. Und kann damit «das Heiligste und Grösste das es gibt, die Familie», retten.
An diesem Abend habe ich begriffen, dass ein Anwalt nützlich sein kann, dass er Segen bringen kann, und wenn es mir später gelingen sollte, die Scherben eines entzweigerissenen Haushalts zu retten, Unglücklichen ein wenig Mut zurückzugeben, würde ich es Bordeaux und unserem guten pays vaudois verdanken.
Das Jusstudium wird es also sein. Zur Zufriedenheit von Papa. Aber obschon der Vater ihn dazu drängt, will Marcel nicht zu den Helvetern, sondern zu den Belles-Lettres . Aus dieser 1806 von fünf Halbwüchsigen gegründeten, ältesten aller Lausanner Studentenverbindungen sind Pastoren, Lehrer, Professoren, Ärzte, Anwälte, Literaten, Journalisten hervorgegangen, aber nur wenige Politiker.
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