Syntaktifizierung und Integration hängen zumindest in den Sprachen, die uns interessieren, mit der jahrhundertelangen Herausbildung einer Schrift- und Lesekultur zusammen.2 Die schriftlose, gesprochene Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ist eine dialogische, in der die Dinge in Rede und Gegenrede durchgesprochen werden. Die Einigung darüber, was womit in welcherWas steht womit in welcher Beziehung? Beziehung steht und welche praktische Relevanz das hat, kann so in Wechselrede ausgehandelt und in ihrem Verlauf konkretisiert werden. Dabei stehen unzählige HinweisreizeHinweisreizHinweis bereit, die in der schriftlichen Kommunikation von Angesicht zu Papier und von Papier zu Angesicht fehlen. Dazu zählen ProsodieProsodie, Mimik, Blickrichtung, Gestik und Körperausrichtung unter den Beteiligten, aber auch alle Aspekte einer gemeinsamen Situation, die im gemeinsamen Wissensvorrat der Beteiligten verfügbar sind. Was im sprachlichen Ausdruck uneindeutigmehrdeutig ist, kann so anhand von Hinweisen aus der Mit- und Umwelt vereindeutigteindeutig werden. Und wo dies schiefgeht und wahrnehmbare Konsequenzen zeitigt, erlaubt die Unmittelbarkeit des Kontakts die sofortige Behebung des Problems. Das dialogische face-to-face -Sprechen ist auf das Zurückgreifen auf außersprachliche HinweiseHinweisaußersprachlich hin, oder besser gesagt, an der VerfügbarkeitHinweisverfügbar dieser Hinweise entlang entwickelt. Die Beteiligten sind für ihren Interpretationserfolg nicht auf einen dicken Kokon vielschichtiger, engmaschiger Vernetzungen angewiesen, die sich um die Anordnung von Zeichen auf Pergament oder Papier herumwickeln. Das Netz, das sie zur Verfügung haben, ist viel weniger zwischen den Elementen der Äußerung oder des Textes geknüpft, wie es bei der geschriebenen Kommunikation zwangsläufig der Fall ist, als zwischen den Äußerungselementen, den Gegenständen der gemeinsamen Situation und den Beteiligten der Kommunikation. Deshalb kann man eine neuhochdeutscheNeuhochdeutsch Bibel auch vom Tisch nehmen, wegtragen und woanders ebenfalls verstehen. Nimmt man zwei Vogelsberger Bauern bei der Arbeit auf und hört sich die Aufnahme am eigenen Küchentisch an, wird schwer nachvollziehbar sein, was in den Äußerungen womit in welcher Beziehung stehend vorgestellt werden soll; nicht, weil man die Wörter nicht kennte, sondern weil beim Weggehen die Fäden in die außersprachliche Situation gerissen sind.
Wenn wir nun an monologische, geschriebene Texte wie die Bibel denken, ist es klar, dass Interpretinnen keine Verständnishilfen aus der Situation erwarten dürfen. Sie können auch nicht an den Urheber der Äußerungen zurückfragen, wie etwas gemeint ist. (Sie könnten sich an Dritte wenden, die die Auslegung sakraler Texte professionell betreiben.) Bei ihrer Interpretation sind sie allein auf das angewiesen, was das Medium und das darin Symbolisierte ihnen bereitstellen. Das erzeugt einen bestimmten funktionalen Druck auf monologische, geschriebene Sprache. Das Ausgedrückte muss ohne Fäden in die situative Mit- und Umwelt der Interpretin so deutbar sein, dass die richtigen Vorstellungen konstruiert und HandlungenHandlung vorgenommen werden können, und zwar nach Möglichkeit bei jedem erneuten Lesen auch und unabhängig davon, wer das Geschriebene interpretiert.3 Als geschriebensprachliche, eigenstrukturelle KonventionenKonvention entwickeln sich dann solche, die diese funktionalen Erfordernisse erfüllen können und deren Charakteristik ich als SyntaktifizierungSyntaktifizierung und Integration angegeben habe. Am vorläufigen Ende stehen situationsentbundene Sprachgebilde – anstatt situationsgebundener Sprechhandlungen – die ohne die Stütze der Mit- und Umwelt erfolgreich zu Interpretationen instruieren. Das konventionalisierte Know-how Know-how, das auf der Seite eines Schreibers dazugehört, wird von Ong so charakterisiert:
To make yourself clear without gesture, without facial expression, without intonation, without a real hearer, you have to foresee circumspectly all possible meanings a statement may have for any possible reader in any possible situation, and you have to make your language work so as to come clear all by itself, with no existential context.4
Auf den ersten Blick klingt das nicht sonderlich herausfordernd. Immer wenn wir etwas für jemand anderes schreiben, glauben wir, und sogar meistens zu Recht, diesem Anspruch zu genügen. Bei dieser Beurteilung vergessen wir aber, dass wir uns dabei wie selbstverständlich und ohne es zu merken des schon konventionalisierten Know-hows bedienen, das unzählige Generationen vor uns erst akkumulieren mussten. Die historische Herausbildung dieses Know-hows innerhalb einer sprachlichen Verkehrsgemeinschaft musste sich genauso langwierig vollziehen wie die Herausbildung gesprochensprachlicher Konventionen, und das heißt durch Generationen übergreifende Zyklen aus Variation – vielfältiges Ausprobieren –, Selektion – Weiterverwendung des Erfolgreichen – und Reproduktion – Weitergabe beziehungsweise Übernahme des Bewährten – zwischen Menschen innerhalb von Gruppen und zwischen Gruppen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir kein explizites, analytisches Wissen darüber besitzen, welchen sprachlichen Regelungen wir nachkommen, während wir sprechen. Wir sprechen einfach. Ebenso wenig können wir explizieren, wie wir unsere Gestik, Mimik und Intonation dabei nutzen sowie Faktoren der Situation in unser Sprechen und Interpretieren einbeziehen. Auch das tun wir einfach. Wir können also nicht davon ausgehen, dass die Sprachproduzenten mit einer historisch neuen Konstellation – Verfügbarkeit des Mediums Schrift und gleichzeitige Unverfügbarkeit der Mit- und Umwelt beim Schreiben und Interpretieren – sich auch schon darüber bewusst waren, dass das Schreiben neue Anforderungen an Schreiber, Geschriebenes und Interpretin stellt. Noch weniger dürfen wir davon ausgehen, dass sie schon über das Know-how Know-how verfügten, wie die Leistungen kompensiert werden konnten, die die Mit- und Umwelt beim dialogischen Sprechen bisher übernommen hatten. Die frühen Schreiber und Interpretinnen mussten also wahrscheinlich zunächst einmal oft genug daran scheitern, geschriebene Sprache verständlich zu gestalten beziehungsweise gesprochene Sprache erfolgreich zu interpretieren, weil die Schreiber so schrieben, wie sie ansonsten sprachen. An diesem Scheitern mussten sie dann lernen, dass für die geschriebene Kommunikation eine andere Konzeption von Sprache erforderlich war.5
Erst wenn Sprachnutzerinnen schreiben und sich dadurch Sprache vor Augen führen, werden sie darauf aufmerksam, dass ihre Hervorbringungen aus unterscheidbaren, voneinander abgesetzten Einheiten wie Buchstaben, Wörtern und (Teil-)Sätzen bestehen. Das schärft aber ein Differenzbewusstsein: ein Bewusstsein, dass eine Einheit im Geäußerten an dieser Stelle einen Unterschied macht, und dass diese Einheit an dieser Stelle nur eine Möglichkeit unter anderen ist.6 (Dazu zählt auch die Möglichkeit, nichts zu äußern und damit etwas mitzumeinen.) Das geschriebene Wort verschwindet mit seiner Entäußerung nicht sofort wieder im Nichts. Das führt dazu, dass die erste, automatischeAutomatismus oder routinisierteRoutine, Routinisierung Interpretation einer Äußerung nicht auch schon die endgültige Interpretation sein muss, wie dies beim gesprochenen Wort der Fall ist, das uns unter interpretativen Zeitdruck setzt. Die Möglichkeit, Äußerungen erneut zu inspizieren, macht den Schreiber und die Interpretin auf alternative Deutungen aufmerksam und verweist auf Alternativen der sprachlichen Gestaltung. Daran muss der Schreiber lernen, dass es maßgeblich in seiner Verantwortung liegt, nicht missverstandenverstehen zu werden, denn er hat – anders als beim Sprechen von Angesicht zu Angesicht – auf absehbare Zeit nur einen Verbalisierungsversuch. Das Papier wird ihn nicht auf Missverständliches aufmerksam machen, denn es ist bekanntermaßen geduldig. Dennoch objektiviert Schrift durch ihre Sichtbarkeit und Konstanz Sprache und lässt den Schreiber eine reflexive Distanz zu ihr gewinnen, lässt ihn auf Dauer sprachlich umsichtiger werden und ein analytischeres Denken entwickeln. Das hat vermutlich einerseits zu dem Bewusstsein geführt, dass man in der Rolle des Schreibers expliziter sein muss als in der Rolle der Sprecherin. Um den Interpretationserfolg sicherzustellen, hat dies historisch aber noch nicht ausgereicht. Das Explizierte musste nämlich nicht nur explizit sein, sondern auch korrekt auf die anderen Äußerungsbestandteile beziehbar sein oder, umgekehrt ausgedrückt, es mussten naheliegende, aber nicht intendierte Interpretationen bei den Leserinnen ausgeschlossen werden. Beim Übergang vom erfolgreichen dialogischen Sprechen zum erfolgreichen monologischen Schreiben haben wir daher damit zu rechnen, dass die Schriftkundigen umsichtiger wurden und dass die sprachliche Eigenstruktur einen Zuwachs an Regelungen – gleichbedeutend mit einer Einbuße an Gestaltungsfreiheit – erfuhr, um erfolgreich zum Vorstellen und Handeln instruieren zu können. Die Einbindung ehemals freier handhabbarer Phänomene in die geschriebensprachliche Eigenstruktur konnte die Wahrscheinlichkeit der Fehlinterpretation von Geschriebenem verringern. Dafür musste sich aber zuerst ein Zustand entwickeln, in dem eine kritische Masse an Sprachbenutzerinnen diese Eigenstrukturen in Form von wechselseitigen SprachhandlungserwartungenErwartung hervorbringen und verinnerlichen konnte.
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