Der Schatzmeister war direkt den Weg des Geldes gegangen. Nach dem Abitur hatte er bei einer Wertpapierhandelsfirma angeheuert und dafür auf ein Studium verzichtet. Es war die Zeit der großen Illusion, der vielversprechende Begriff der New Economy machte die Runde – und mit ihm der naive Glaube, eine Ära des dauerhaften Aufschwungs sei angebrochen. Der Neue Markt stand in voller Blüte, jede Woche kamen drei neue Firmen auf den Börsenzettel und ein Kurssprung von 20, 30 oder sogar 50 Prozent über Ausgabepreis am ersten Handelstag gehörte fast schon zum guten Ton für Neuemissionen. Mit etwas Mut und einem glücklichen Händchen konnte man ein kleines Vermögen machen. Für ein großes Vermögen indes brauchte es etwas mehr: Man musste in einer Bank oder bei einem Broker arbeiten, die richtigen Leute kennen, brauchte Zugang zu reichlich fremdem Kapital und durfte keine Gewissensbisse haben, schmutzige Tricks anzuwenden. Hier eine geschickte Kursmanipulation in einem Nebenwert, dort eine erkaufte Insider-Information, da eine bevorzugte Zuteilung als Gegengeschäft für eine positive Aktienanalyse. Das Risiko, damit aufzufliegen, war über einige Jahre hinweg gering. Erst als die Blase platzte, die Kurse sanken und viele Anleger merkten, dass sie echtes Geld verloren, begann die Jagd auf all jene Profiteure, Trittbrettfahrer und Betrüger, die sich behaglich eingerichtet hatten in den Nischen des Börsengeschäfts, und die zuvor in der Zeit der großen Party niemand wirklich gestört hatten.
Gregor Corvinius, der Kronberger Investmentbanker, war noch rechtzeitig der Absprung gelungen, er brachte sein Geld in Sicherheit und wechselte den Job, aus dem Handelsraum einer Großbank zu einem renommierten Vermögensverwalter. Seine vielen unerlaubten Geschäfte konnten Monate später von Controllern, Betriebsprüfern und schließlich sogar der Wertpapieraufsicht nicht mehr präzise zugeordnet werden. Die Verfahren gegen seine ehemalige Abteilung wurden deshalb eingestellt.
Den Schatzmeister hingegen erwischte es seinerzeit volle Kante. Zwei seiner damaligen Partner bekamen es mit der Angst zu tun, als die Wertpapieraufsicht auf ihre Firma aufmerksam wurde. Sie stellten sich den Behörden und lieferten ihnen umfangreiches belastendes Material, darunter E-Mails des Schatzmeisters, die ihn eindeutig als einen der Drahtzieher manipulierter Aktien- und Termingeschäfte überführten. Die Ermittler konnten ihm daraufhin die persönliche Beteiligung an einer in Internet-Anlegerforen lancierten Kampagne nachweisen, mit dem der Kurs ausgewählter MDAX-Unternehmen künstlich in die Höhe getrieben worden war. Da er sich zudem an Kundengeld vergriffen hatte, um damit eine Brückenfinanzierung für eigene Aktienkäufe zu organisieren, verlor er binnen weniger Tage nicht nur seinen Job und sein Vermögen. Als nunmehr vorbestrafter und nur durch die Bewährung vor einer Haft verschonter Endzwanziger hatte er zudem wenig Aussicht, auf legalem und rechtschaffenem Weg noch einmal einen schnellen Aufstieg zu schaffen. Er war wieder ganz unten gelandet, zurück auf Los. Und ohne die Bärbeißigkeit, die er sich in Reaktion auf den Spott, die Verachtung und die Boshaftigkeiten der Menschen um ihn herum angeeignet hatte, hätte er gewiss nicht die Ausdauer und Geduld für einen erneuten Anlauf gehabt, an das große Geld zu gelangen – an genug Geld, um selbst als Mensch mit einem derart unansehnlichen Gesicht ein seiner Vorstellung nach entsprechend attraktives Leben führen zu können.
Der Schatzmeister blickte sich selbst tief in die Augen, die sich auf dem Bildschirm des Computers vor ihm spiegelten. Dieses Mal, das schwor er sich, werde er sich von nichts und niemandem aufhalten lassen – vor allem nicht von irgendwem, der plötzlich Fracksausen bekommt und aussteigen will. Wenn es nicht anders ginge, würden die Wackelkandidaten noch brutaler eingeschüchtert. Und wenn es sein müsste, würde Mikail eben weitere Aufträge erhalten. „Nur noch gottverdammte acht Tage lang müssen alle durchhalten“, sagte er sich selbst in beschwörendem Ton – bevor er im nächsten Augenblick jäh aus seinem Selbstgespräch gerissen wurde. Es klingelte, Nowitzki und Vito waren endlich da.
Oskar war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich bei seiner Verfolgung nicht erwischen zu lassen, als dass er sich auch noch Gedanken darüber hätte machen können, wie er denn nun weiter zu Werke gehen sollte. Er war den beiden ominösen Computerdieben mit einigem Abstand gefolgt – zunächst in die Taunusanlage, dann mit der S-Bahn zum Südbahnhof und von dort aus weiter zu Fuß ins Malerviertel, wo das Duo in der Rubensstraße in einem schicken dreistöckigen Bürohaus verschwand. Nun stand Oskar unentschlossen wenige Meter davon entfernt auf dem Nachbargrundstück und hatte nicht die geringste Idee, was er als nächstes tun sollte. Die Polizei konnte er nicht einschalten, ohne sich lächerlich zu machen. Was hatte er denn zu melden außer einen ziemlich dubiosen Austausch von Computern?
Zudem gab es einen weiteren Grund, der Oskar davon abhielt, die Polizei einzuschalten. Als er vor vier Jahren aus dem Rodgau nach Frankfurt gezogen war, hatte er klammheimlich die Wohnung eines Freundes übernommen. Dem Vermieter hatten sie nichts erzählt, weil Oskar Angst hatte, dass der die Gelegenheit eines Mieterwechsels für eine Mieterhöhung nutzen würde. So lebte der Jungjournalist nach wie vor mit der offiziellen Adresse einer Wohngemeinschaft in einem Haus im Rodgau, das bereits seit zwei Jahren leerstand.
Wenn er sich an die Polizei wandte, musste Oskar damit rechnen, dass seine Personalien aufgenommen würden – und dass in diesem Zusammenhang seine jahrelangen Falschangaben auffliegen würden. Das könnte wiederum reichlich Ärger mit dem Einwohnermeldeamt und mit seinem Vermieter nach sich ziehen – und sogar mit dem Finanzamt, denn unterm Strich profitierte er bei seiner Steuererklärung davon, dass er unrechtmäßigerweise einen beachtlichen Kostenaufwand als Pendler geltend machte. Kurzum: Der Gang zur Polizei war eigentlich keine Option.
Oskar hatte sich, um nicht aufzufallen, in eine benachbarte Einfahrt begeben, von wo aus er einen ausgezeichneten Blick auf das Haus hatte, in das die beiden Laptop-Diebe verschwunden waren. In den oberen Stockwerken waren die Rollläden heruntergelassen, dort hielt sich also vermutlich aktuell niemand auf. Im ersten Stock hingegen schienen Personen anwesend zu sein. Jedenfalls waren zwei Fenster angesichts der Dauerhitze sperrangelweit geöffnet – und ein weiteres, das zur Seite hin, stand immerhin einen Spaltbreit offen.
Oskar trat aus der Einfahrt hervor und schritt langsam zum Eingang des Bürohauses. Neben der Tür präsentierte eine weiße Anzeigentafel die Namen der Firmen, die hier beheimatet waren. Die oberen Stockwerke standen leer, in der zweiten Etage residierten zwei Großhandelsfirmen mit japanischen oder koreanischen Namen und im ersten Stockwerk war eine Gesellschaft für Finanzberatung und Vermögensverwaltung namens Momentum zu Hause. Die Glastür spiegelte zwar das helle Sonnenlicht, aber mit etwas Geschick konnte man von außen erkennen, was sich im Hausflur tat. An dessen Ende war ein Fahrstuhl, über dem eine digitale Anzeige die jeweilige Etage anzeigte, in der sich der Fahrkorb gerade befand. Oskar drückte die Nase an die Scheiben und konnte gerade noch registrieren, wie die Ziffer von null auf eins sprang und dort stehenblieb. Allem Anschein nach gehörten die beiden Diebe also zu jener Unternehmung, die sich als Momentum Finanzberatung ausgab.
„Wen suchen Sie?“, fragte eine scharfe Stimme hinter ihm.
Oskar erschrak. Ein etwa 25-jähriger Mann mit langen Haaren, die sein halbes Gesicht verdeckten, musterte ihn streng und erwartete eine Antwort. „Ich suche die Geschäftsstelle des Handwerksverbands“, log Oskar, weil ihm so schnell nichts Gescheiteres einfiel. Er bemühte sich, möglichst gelassen dreinzuschauen. „Das ist doch hier Rembrandtstraße 32, oder?“.
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