Detlef Fechtner
Tod im Bankenviertel
Börsen-Krimi
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Satz: Bruno Dorn, Societäts-Verlag
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ISBN 978-3-95542-395-7
Es war ein dumpfes Geräusch, kurz, ohne jeden Nachhall. Der Körper war gleich zu Beginn des Sturzes in etwa 150 Metern Höhe gegen die Hauswand geschleudert und danach um die eigene Achse gewirbelt worden. Und er hatte sich auf halber Höhe so ineinander verdreht, dass Schultern und Knie wenig später fast synchron aufschlugen. Trotz der ungeheuren Wucht des Sturzes auf den ausgetrockneten Rasen konnte man den Aufprall nicht mehr vorne auf dem Reuterweg hören, erst recht nicht im Rothschildpark und wahrscheinlich noch nicht einmal nebenan in der Oberlindau. Aber dort war ohnehin niemand mehr unterwegs. Selbst in einer lauen Sommernacht wie dieser verirrte sich um vier Uhr morgens keine Seele mehr ins Frankfurter Bankenviertel – jedenfalls nicht an einem Wochentag. Wer morgens um acht bei der ersten Schalte mit Tokio und London hellwach sein muss, gönnt sich unter der Woche allenfalls einen After-Work-Club, aber spätestens um Mitternacht ist Schluss mit Party. Dann eilen die letzten Banker und Börsenhändler in ihre Westend-Altbauwohnungen, sinken in Himmelbetten oder auf Futons und träumen von fernen Inseln und von Frauen, die nach Lavendel duften. Oder, wenn’s schlecht läuft, von 200-Tage-Linien und Kurs-Gewinn-Verhältnissen.
Die Leiche lag unnatürlich gekrümmt auf der kleinen Grünfläche vor dem Heizungskeller des Bankhochhauses. Rechtsmediziner räumen beim freien Fall aus 20 Metern noch geringe Überlebenschancen ein, nicht aber bei einem Sturz vom Dachgeschoss der 47. Etage der Frankfurter Hypo-Union-Zentrale. Eine dichte Vogelbeerenhecke verhinderte, dass die Leiche zufällig von den Pendlern entdeckt werden konnte, die zwei Stunden später als erste die kleine Anlage Richtung U-Bahn durchquerten. Und dass Schüler des Bischof-Ketteler-Gymnasiums auf sie stoßen konnten, wenn sie um halb acht ihren Schulweg über den kleinen Trampelpfad hinter dem Bankhochhaus abkürzten, war ebenfalls ausgeschlossen. Schließlich war Mitte August, Ferienzeit. Folglich konnte nur einer der drei Haustechniker die Leiche finden, bei der routinemäßigen Kontrolle der Kälte- und Wärmezentrale der Bank gegen halb neun. Zu einer Uhrzeit also, zu der vorne im Foyer der Hypo-Union schon so viel Betriebsamkeit herrschte, dass selbst die Videoüberwachung keine echte Hilfe mehr für die anschließenden Ermittlungen sein würde. Zumindest konnte sich bis dahin jeder unbemerkt unter die Angestellten und Geschäftskunden mischen, die das Foyer am frühen Vormittag bevölkerten. Jeder konnte um diese Zeit unauffällig aus dem Gebäude verschwinden. Auch diejenigen, die etwas damit zu tun hatten, dass hinter der Hecke ein Toter lag. Sie hatten nichts dem Zufall überlassen.
Die Innenpolitik war da, der Außenhandel , die Devisenmärkte , das Bankenressort . Und wie immer am hinteren Teil des großen Konferenztisches auch Unternehmen & Bilanzen . Carl Stolberg faltete die aktuelle Ausgabe des Finanzblatts sorgfältig zusammen und legte sie auf den leeren Platz neben sich. Das war das unmissverständliche Signal des Chefredakteurs, mit der täglichen Blattmacher-Runde zu beginnen.
Stolberg, ein schlanker, stets exzellent gekleideter Mann von 58 Jahren, war vor zwölf Jahren zum Finanzblatt zurückgekehrt – an die Spitze jener Wirtschafts-Tageszeitung, bei der er 22 Jahre zuvor als Volontär angefangen hatte. Damals hießen Eon noch Viag und Veba, TUI noch Preussag und die Telekom noch Bundespost. Die Börse war damals noch komplett um die Ecke von der Hauptwache zu Hause, und im Handelssaal wurden die Geschäfte ausgerufen statt in Computer eingegeben. Stolberg war oft auf dem Parkett gewesen, zu einer Zeit, als Lärm und Schweißgeruch im großen Handelssaal noch mehr über die Stimmung im Markt aussagten als die Kurstafel.
Mittlerweile kam er kaum noch zum Schreiben, ab und zu eine Glosse oder einen Leitartikel, hin und wieder eine Personalie über Manager oder Minister, die er meistens schon Jahrzehnte persönlich kannte. Trotzdem war er das, was sie ein Nachrichtenschwein nannten. Hungrig, unaufhörlich wühlend, wenn es darum ging, eine Geschichte auszugraben.
„Bringen wir’s hinter uns“, eröffnete Stolberg die Blattmacher-Runde. Er wusste, dass es heute wieder einmal ein zähes Geschäft werden würde. Aus Sicht eines Wirtschaftsredakteurs sind die Sommermonate geprägt von der ständigen Angst vor der leeren Seite. Es gibt keine bedeutenden Deals, keine Jahresbilanzen, keine Sitzungen der Notenbanken. Das Börsengeschäft ist schleppend, lustlos, umsatzschwach. Nicht einmal die Politik liefert brauchbare Schlagzeilen. Niemand streitet, niemand droht, niemand streikt – es ist schlichtweg entsetzlich. Im August Zeitung zu machen, ist so spannend, wie auf einem Elternabend Protokoll zu führen. Im Grunde gibt es nichts, was es wert wäre, aufgeschrieben zu werden. Aber irgendwie muss man das Blatt ja füllen.
Jan Röber, der Blattmacher am Nachrichtentisch, gab sich erkennbar Mühe, irgendetwas Zeitungstaugliches zu bieten. In Südafrika verdichteten sich Spekulationen über eine Fusion zweier großer Goldminen. Drei deutschen Industrieunternehmen der zweiten Reihe drohten Herabstufungen ihrer Ratings. Und seit Tagen kursierten Gerüchte über Finanzierungsengpässe der Nordwestdeutschen Landesbank.
„Wenn wir selbst mal wieder einen Akzent setzen wollen, hätt’ ich was anzubieten“, meldete sich Sven Schlosser aus dem Kapitalmarktressort zu Wort. „Wir haben heute einen ziemlich großen Auflauf in der Alten Oper. Ein Fachkongress über Risikobewertung in der Bilanz, Value at Risk und solche Sachen“, berichtete er. „Das hat mächtig Sprengkraft für die Großbanken.“
„Fachkonferenz“, wiederholte Stolberg mit gedämpfter Stimme. Der Chefredakteur schien davon nicht gerade begeistert. „Irgendwelche Prominenz?“, fragte er zurück.
Schlosser zählte auf: „Vier Bankvorstände, der Vize der Finanzaufsicht – na ja, und Berenbrink als Stargast.“ Franz Berenbrink, der Bundesbank-Präsident – immerhin.
„Und wer ist für uns vor Ort?“, setzte Stolberg nach.
„Ich“, meldete sich mit selbstbewusster Stimme einer der Jungredakteure, die keinen Sitzplatz mehr am großen Tisch gefunden hatten und deshalb die Konferenz stehend oder an der Wand lehnend verfolgten. Es war Oskar Willemer, einer der wortwörtlich neuen Kräfte – denn er hatte seinen Job beim Finanzblatt erst vor vier Wochen angetreten.
Der Chefredakteur ließ sich langsam in seinen Stuhl zurückfallen, legte seine Stirn in Falten und seinen Zeigefinger an die Unterlippe. „Ich freue mich, lieber Herr Willemer, dass Sie bereits nach nach so kurzer Zeit bei uns derart motiviert Außentermine wahrnehmen. Man hat mir schon geflüstert, dass Sie mit viel Elan gestartet sind – wunderbar. Aber mal Hand aufs Herz: Sind Sie denn auch der Meinung, dass Ihre Berichterstattung über den Fachkongress auf die Titelseite gehört?“
Man sah Oskar an, dass ihm die Situation unangenehm war. Ehrlich gesagt hatte er sich noch keine großen Gedanken über seinen Tagestermin gemacht – und erst recht nicht erwartet, dass ihn der Chef vor versammelter Mannschaft darüber ausfragen würde. Um seinem Ressortchef nicht in den Rücken zu fallen, entschied sich Oskar für eine diplomatische Antwort: „Schlosser hat Recht, das Thema ist explosiv. Aber es sollte gewiss reichen, wenn wir das Wichtigste, was heute in der Alten Oper geschieht, auf Seite eins einspaltig anreißen. Zumal ich ohnehin die Geschichte über die Herabstufungen der deutschen Industriefirmen spannender finde, denn das heißt doch, dass deren Finanzierungskosten steigen.“
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