Christian Herzog, ein großer und kräftiger Mann mit Locken, dessen Stirn im Sommer ständig nass von Schweiß glänzte, hatte eine beeindruckende Karriere vorzuweisen. Er war mit 44 Jahren der mit Abstand jüngste Polizeipräsident, den Frankfurt je gesehen hatte. Das lag sicherlich auch an seinem forschen Auftritt. Herzog vermittelte den Eindruck, dass er die Probleme beherzt anpackte, dass er den Mut auch zu schwierigen Entscheidungen hatte. Und dass er ungewöhnlichen Methoden gegenüber durchaus aufgeschlossen war, solange sich niemand über das Recht stellte.
„Da kommt halt grad mit dorsch hinner ins Kaminzimmer“, lotste der Dicke Heiner den Journalisten und den Polizeichef durch die Menge – und fand für sie tatsächlich noch zwei Sitzplätze im schönsten Gastraum der Apfelwein-Schänke.
„Eigentlich hätte ich ja allen guten Grund, auf Sie sauer zu sein, Stolberg“, eröffnete der Polizeichef, kaum dass er Platz genommen hatte, das Gespräch gewohnt offensiv und hielt sich nicht lang mit Freundlichkeiten auf. „Ihr verdammter Leitartikel über die Pannen beim polizeilichen Personenschutz hat im Präsidium für ziemlichen Wirbel gesorgt“, schimpfte Herzog.
Stolberg reagierte darauf mit unschuldiger Miene: „Mal ehrlich, Herr Herzog, Sie können mir doch nicht ernsthaft böse sein wegen dieses Kommentars? Oder habe ich Ihren Beamten darin unrecht getan?“
Der Polizeichef musterte sein Gegenüber, nahm sein Rautenglas und leerte es mit einem kräftigen Schluck. „Nein, natürlich nicht. Meinetwegen hätten Sie sogar noch fester draufhauen können auf die Kollegen. Was mich ärgert, ist, dass Sie damals besser darüber informiert waren, was bei uns so alles schiefgelaufen ist, als ich.“ Herzog nahm den Bembel und füllte das Rautenglas neu auf. „Und was zur Hölle wollen Sie nun noch von mir wissen? Sie haben doch schon alles geschrieben, was es zu schreiben gibt.“
„Da haben Sie recht“, entgegnete der alte Mann des Finanzjournalismus freundlich. „Ich interessiere mich im Moment auch gar nicht für Ihre Behörde. Sondern nur für einen ganz besonderen Fall, mit dem Sie aktuell zu tun haben. Präzise gesagt, für einen Fall aus dem 47. Stockwerk des Hypo-Union-Towers.“
Mit dieser Anfrage hatte Herzog nicht gerechnet. Er lehnte sich zurück, atmete tief durch und fuhr sich mit der Hand ins Gesicht, um sich den Schweiß von der Nase zu wischen und die Augen zu massieren. Man merkte ihm an, dass er sich konzentrierte, um ja nichts zu sagen, was er schon in wenigen Minuten bereuen würde. Nach einer kurzen Denkpause hatte er seine Gedanken geordnet.
„Am liebsten, Stolberg, würde ich Ihnen überhaupt nichts sagen. Ich meine: Wir sprechen immerhin über eine Tat, die gerade mal ein paar Stunden zurückliegt. Wir wissen bislang nicht viel. Und das Wenige, was wir wissen, ist so verwirrend, dass noch kein klares Bild entsteht … Aber ich fürchte, dass wir Ihre Hilfe noch gut werden brauchen können – und deshalb packe ich die Gelegenheit beim Schopfe und schlage Ihnen einen Deal vor.“
Der alte Journalist traute seinen Ohren nicht. Immerhin hatte er ja um diese Unterredung gebeten und war nun doppelt überrascht, dass Herzog etwas von ihm wollte. „Sie glauben, dass ausgerechnet ich Ihnen bei Ihren Ermittlungen helfen kann?“, fragte er erstaunt zurück.
„Ja, denn meine Leute und die Fahnder von der Staatsanwaltschaft kennen Banken nur vom Geldabheben. Es würde Tage dauern, bis die kapieren, was der Unterschied zwischen einem Treasurer, einem Liquiditätsmanager und einem Geldhändler ist. Und Wochen, um daraus etwas für die Ermittlungen abzuleiten. Sie hingegen kennen die Banken besser als jeder andere hier in der Stadt. Sie wissen, wer welche Partner braucht, um irgendein Ding drehen zu können. Und Sie können viel schneller als meine Leute eins und eins zusammenzählen und verstehen, wer aus welchem Grund Geschäfte vereinbart. Deshalb, Stolberg, biete ich Ihnen folgenden Pakt an: Ich halte Sie auf dem Laufenden und liefere Ihnen Informationen über den Fall – natürlich nur in den Grenzen dessen, was mein Amtseid zulässt. Dafür versprechen Sie mir erstens hoch und heilig, mich niemals zu zitieren und auch keine Andeutungen zu machen, die auf mich als Quelle schließen lassen. Und zweitens helfen Sie mir, indem Sie mich an allen Ihren Vermutungen und Spekulationen teilhaben lassen, die Ihnen zu dieser Sache einfallen – und zwar bevor Sie sie Ihren Lesern mitteilen.“ Und mit staatstragender Stimme fügte er hinzu: „Wir brauchen Sie, Stolberg, wir brauchen jeden noch so kleinen Hinweis und jede Gedankenspielerei. Denn ich habe im Blut, dass es hier um eine verdammt ernste Sache geht.“
Der Chefredakteur willigte stumm ein, indem er nickte und seine rechte Hand wie zum Schwur erhob. Dann aber hakte er sofort nach: „Ich hatte also recht mit meiner Vermutung, dass irgendjemand das Opfer aus dem 47. Stock in den Tod gestoßen hat?“
Der Polizeipräsident schüttelte den Kopf: „Nein.“
Verwirrt fragte Stolberg: „Wie? Also war es doch ein Selbstmord?“
„Nein“, antwortete Herzog erneut. „Es ist komplizierter.“ Der Polizeichef rückte etwas nach vorne, lehnte sich zu seinem Gesprächspartner hinüber und sprach so leise, dass die Tischnachbarn garantiert nichts aufschnappen konnten: „Wir gehen nach der ersten Obduktion davon aus, dass das Opfer bereits tot war, als man es in das Hypo-Hochhaus verfrachtete und vom Dach herunterwarf. Und das, mein lieber Stolberg, bedeutet nichts Gutes. Wahrscheinlich haben wir es mit dem zu tun, was unsere Kriminalisten ein Zeigedelikt nennen. Irgendwer will wohl irgendwen erschrecken. Oder warnen. Oder rächen. Oder was auch immer. Auf jeden Fall sieht es danach aus, dass wir gerade erst den Auftakt zu einer ganzen Serie von Kriminaltaten erlebt haben.“
Stolberg nickte und erinnerte sich daran, dass sein junger Redaktionskollege Oskar Willemer beim Gespräch nach der Blattmacherkonferenz am Vormittag bereits ähnliche Vermutungen geäußert hatte.
„Sie haben völlig recht, Herr Herzog“, sagte Stolberg schließlich. „Das bedeutet wirklich nichts Gutes. Wahrscheinlich haben Sie es mit einem Täter zu tun, der ebenso systematisch wie kaltblütig vorgeht.“
Nur wenige wussten, wie der Schatzmeister mit richtigem Namen hieß. Alle sagten zu ihm Schatzmeister, so wie sie Nowitzki ungefragt Nowitzki nannten und Vito eben Vito. Es konnte nur von Vorteil sein, wenn jeder gerade das Nötigste über den anderen wusste. Der Schatzmeister freilich war die Ausnahme. Er war der Einzige, der alle Beteiligten auch mit ihren echten Namen kannte – oder zumindest alle, die zur eigentlichen Mannschaft zählten. Bei ihm liefen die Fäden zusammen, er koordinierte das Projekt. Und er gab die Anweisungen.
Zur Mannschaft im engeren Sinne gehörten auch Nowitzki und Vito. Sie konzentrierten sich auf Botendienste und Spezialaufgaben – der Schatzmeister sprach von ihnen als den „Handwerkern“. Ihre Arbeit war allerdings strikt auf Aufträge beschränkt, die jeder Kleinkriminelle ausführen konnte. Dass sich der Schatzmeister gerade für den großen Blonden und den kleinen, pummeligen Portugiesen entschieden hatte, lag daran, dass er die beiden schon seit Ewigkeiten kannte. Sie waren zwar nicht brillant, aber hundertprozentig loyal – und sie hatten noch etwas gut, weil Nowitzki vor einigen Jahren zu Falschaussagen vor Gericht bereit gewesen war, um ein Alibi zu decken. Insofern waren sie in den Augen des Schatzmeisters durchaus die Richtigen für alle Dienste, die nicht allzu große Geschicklichkeit und Kaltblütigkeit verlangten.
Für alles, was darüber hinausreichte, gab es einen Profi namens Mikail, mit dem selbst der Schatzmeister nur telefonisch in Kontakt trat – sozusagen ein externer Partner für das grobe Geschäft. Der Schatzmeister vermutete aufgrund des starken slawischen Akzents, dass er es bei Mikail mit einem in Deutschland untergetauchten Russen, Weißrussen oder Ukrainer zu tun hatte. Er war gleichzeitig froh, dass er es nicht mit Gewissheit sagen konnte. Denn das gab ihm das Gefühl, dass Mikail seinerseits auch keine Ahnung hatte, von wem er Instruktionen und Geld erhielt – und das war dem Schatzmeister ausgesprochen recht. Denn ihm war unwohl dabei, mit einem kriminellen Söldner zusammenzuarbeiten. Mehr noch: Er hatte schlichtweg Angst vor diesem Mann am anderen Ende der Leitung, der kaltschnäuziger war als er selbst und deshalb unheimlich und bedrohlich. Andererseits blieb ihm keine andere Wahl, als auf Mikails Dienste zurückzugreifen, wollte er nicht auch die schmutzigen Aufgaben selbst erledigen, die das Projekt nun einmal mit sich brachte.
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