„Eigentlich, Herr Präsident“, fuhr Pressesprecher Heinen fort, „gibt es im Moment so gut wie nichts, worauf die Wertpapier-Profis spekulieren können. Keine Zinsfantasien, keine außergewöhnlichen Konjunkturdaten. Ich tippe mal, dass man Sie deshalb auf die angeblichen Liquiditätsprobleme der NordwestLB ansprechen wird.“
„Na, dann raus mit der Sprache, Heinen. Sie wollen doch bestimmt wieder, dass ich irgendeinen blöden Satz sage, über den heute früh ihre halbe Abteilung gebrütet hat?“, fragte der Bundesbankchef.
„Tja. Ja. Ja, das stimmt. Die Kollegen von der Bankenaufsicht haben sich gestern an uns gewandt und uns um den Gefallen gebeten, die Märkte zu massieren“, antwortete Heinen. Die Märkte massieren bedeutete, der Notenbankchef sollte ein paar beschwichtigende Sätze loswerden, um Aufgeregtheit aus dem Markt zu nehmen und die Investoren zu beruhigen.
„Und was genau würden die von der Bankenaufsicht gerne hören?“, fragte der Präsident nach.
„Ich glaube, Herr Präsident, man würde es als hilfreich empfinden, wenn Sie in der aktuellen Lage eine Unbedenklichkeitserklärung für die deutschen Banken abgeben würden. So etwas wie: Kein Anlass zur Sorge. Oder: Unbegründete Spekulationen. Halt irgendetwas, was Vertrauen stiftet.“
„Na gut, Heinen,“ seufzte der Präsident, „wenn es irgendjemanden nutzt, dann stelle ich mich auch auf den Kopf, wackle mit den Beinen und sage, dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt“, versicherte Berenbrink.
Sie passierten den Rothschildpark und der Bundesbankchef blickte hinüber zum Hypo-Union-Tower: „Was ist eigentlich heute bei denen los gewesen?“
„Ein Selbstmörder hat sich aus dem obersten Stockwerk gestürzt“, antwortete ihm Heinen, „und bisher weiß man noch nicht viel. Ich glaube sogar nicht einmal den Namen des Opfers.“
Berenbrink blickte dem Bankenturm einen Moment nach. Er stellte sich vor, wie es wohl sei, aus dieser gigantischen Höhe nach unten zu stürzen. Ob es ein lautes Geräusch geben würde, wenn man unten aufschlug? Aus diesen Gedanken wurde er jedoch jäh herausgerissen, weil sie die Vorfahrt zum VIP-Eingang der Alten Oper erreicht hatten.
„Nun denn, auf in den Kampf“, munterte ihn Heinen auf.
Gleich neben der großen Holztür lungerten bereits die Reporter von Worldnews und Realtime sowie einiger Spezialagenturen wie Bondmarket, ETF, afx und dpx . Berenbrink kannte ihre Gesichter auswendig, weil sie ihm zu allen offiziellen Terminen folgten – immer auf der Jagd nach einem Zitat. Berenbrink pflegte einen herzlichen, mitunter sogar lausbubenhaften Umgang mit der „Meute“, wie sich die Agenturreporter selbst nannten.
„Na, ihr alten Blutegel, was zur Hölle soll ich euch denn sagen, was ich nicht schon gesagt habe?“, fragte er in die kleine Runde, nachdem er die Limousine verlassen hatte.
Berenbrink lächelte das halbe Dutzend Presseleute freundlich an und reichte den Reportern nacheinander die Hand zur Begrüßung – eine höfliche Geste, die die Agenturleute längst nicht von allen Prominenten gewohnt waren. „Auf jeden Fall ziehe ich den Hut vor euch, Leute. Ihr schreckt ja wirklich vor gar nichts zurück.“ Der Bundesbankchef setzte eine mitleidsvolle Miene auf und fuhr fort: „Wenn ich das richtig im Kopf habe, dann musstet ihr Bedauernswerten bei diesem Schwimmbad-Wetter ein Grußwort des Oberbürgermeisters ertragen – womöglich sogar in seinem eigenwilligen Englisch … uff.“
„Stimmt“, entgegnete ihm ein breitschultriger Typ mit frecher Stimme. „Aber der eigentliche Härtetest steht noch aus: ein Berenbrink-Vortrag über standardisierte Risikomessung in Banken.“ Es war der Worldnews -Reporter Benjamin Beckmann.
„Vorsicht, Beckmann“, warnte ihn der Bundesbankchef mit gespielter Entrüstung, allerdings mit einem breiten Lächeln. „Vorsicht. Nicht so vorlaut. Und vor allem: nicht so voreilig. Das mit den Standardrisikomaßen mag langweilig klingen. Aber natürlich ist es ungemein wichtig, dass Banken ihre Positionen vernünftig und angemessen bewerten, damit ihnen diese Risiken nicht aus dem Ruder laufen.“
„So wie der NordwestLB?“, hakte Beckmann rasch ein.
„Es gibt keinen Grund für argwöhnische Spekulationen über irgendeine deutsche Bank“, versicherte der Bundesbankchef. „Es gibt nicht den geringsten Zweifel an der Solidität der deutschen Banken.“ Berenbrink blickte seinen Pressesprecher Heinen an, der anerkennend nickte. Der Bundesbankpräsident hatte seine Sätze ordnungsgemäß abgeliefert, sein Pressesprecher war zufrieden – und die Meute war es auch. Die Agenturreporter hatten ihren Stoff. „Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte“, sagte der Notenbanker, „denn ich sehe gerade meinen österreichischen Kollegen – und es wäre unhöflich, ihn nicht zu begrüßen.“
Die Agenturreporter ließen Berenbrink fürs Erste gewähren. Er hatte ihnen genug geliefert, und so wählten sie bereits hastig per Handy ihre Redaktionen an und gaben ihre Eilmeldungen durch.
Ein paar Minuten war Oskar orientierungslos durch Foyers und Gänge der Alten Oper geirrt. Dann aber hatte er doch den Agentur-Arbeitsraum gefunden. Er war leer, alle Reporter saßen wahlweise unten im Mozartsaal und lauschten den Vorträgen oder warteten am VIP-Eingang, um Bundesbankchef Berenbrink abzufangen. Oskar schlich durch die Reihen und lunste auf die Bildschirme der aufgeklappten Laptops. Überall blinkten Schlagzeilen und Zahlenkolonnen. Schreibfelder warteten darauf, mit neuen Nachrichten ausgefüllt zu werden. Oskar entdeckte vorformulierte Meldungen auf den Bildschirmen und schnüffelte in den handschriftlichen Zetteln herum, die überall auf den Tischen lagen.
Es ist schon ein abgeschmacktes Leben, das die Agenturleute führen, dachte er für sich. Irgendwo ankommen, die Computer anschließen, alle möglichen Quellen anzapfen, um sich so schnell wie möglich auf den aktuellen Stand zu bringen. Dann herumlungern, Prominente abfangen – eine Meldung rausdonnern, vielleicht auch zwei oder drei. Und danach sofort wieder abbauen und abhauen. Journalistische Nomaden, Wegelagerer, deren einzige Verwurzelung in einer kabellosen Verbindung zur Heimatredaktion bestand.
Oskar blieb vor einem Laptop stehen, der augenscheinlich seinem Rugby-Kollegen Benjamin Beckmann gehören musste. Denn erstens lief auf ihm das Programm der Agentur Worldnews, bei der Ben arbeitete. Und zweitens lag daneben ein Adressbuch, auf dem ein Aufkleber der Eintracht-Abteilung prangte: Spende Blut, spiele Rugby!
Auf dem Bildschirm des Laptops blinkten die aktuellen Meldungen der vergangenen Minute, darunter eine Eilmeldung in roter Schrift: Berenbrink: „Ke in Zweifel an der Solidität deutscher Banken“ . Oskar schüttelte den Kopf. Was für eine überdrehte Welt, was für ein irrer Wettlauf mit der Zeit!
Durch das geschlossene Fenster hatte er den Opernvorplatz im Blick und konnte dort die Limousine des Bundesbankchefs erkennen. Wenige Meter davon entfernt schüttelten sich Menschen die Hände, die wichtig aussahen und von anderen umringt wurden. Oskar erkannte unter ihnen den Präsidenten der Österreichischen Nationalbank. Und ihm gegenüber stand … na klar, das war Berenbrink – jetzt, wo sich der Bundesbankchef drehte, konnte Oskar ihn einwandfrei identifizieren. Mein Gott, da unten, in Rufweite, stand der oberste deutsche Währungsmanager und hatte noch nicht einmal das Foyer betreten. Aber das, was er vor wenigen Sekunden gesagt hatte, als er aus seinem Auto ausstieg, war durch schnellen Zuruf per Handy an die Newsdesks in den Agenturen übermittelt und von dort aus in alle Welt verbreitet worden – und deshalb nun bereits auf jedem Nachrichtenticker in den Börsenhandelsräumen zwischen New York und Singapur zu lesen, also auch hier auf den Laptops in der zweiten Etage der Alten Oper.
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