Jamaica Kincaid
Nur eine kleine Insel
Aus dem Englischen von Ilona Lauscher
Kampa
Für Brian und Veronica Dyde,
für meine Brüder Joseph, Dalma und Devon Drew, in Liebe,
und (erneut) für William Shawn, in Dankbarkeit und Liebe
Wenn Sie als Tourist nach Antigua kommen, sehen Sie Folgendes: Wenn Sie per Flugzeug anreisen, landen Sie auf dem V.C. Bird International Airport. Vere Cornwall (V.C.) Bird ist der Premierminister von Antigua. Vielleicht sind Sie die Art von Tourist, die sich fragt, warum ein Premierminister Wert darauf legt, dass ein Flughafen nach ihm benannt wird. Warum sollte denn nicht eine Schule oder ein Krankenhaus oder irgendein großes Denkmal seinen Namen tragen? Sie sind Tourist, und Sie haben bis jetzt weder eine Schule in Antigua gesehen noch das Krankenhaus von Antigua und auch kein Denkmal in Antigua. Wenn sich Ihr Flugzeug im Landeanflug befindet, sagen Sie vielleicht: »Antigua ist aber eine schöne Insel!« Sie kommt Ihnen schöner vor als irgendeine von den anderen Inseln, die Sie gesehen haben, und die waren schon sehr schön, auf ihre Art; sie waren jedoch viel zu grün, und der üppige Pflanzenwuchs verriet Ihnen, dem Touristen, dass es dort ziemlich viele Niederschläge gab. Regen ist aber genau das, was Sie jetzt nicht brauchen können, denn Sie denken an die harten und kalten und dunklen und langen Tage, die Sie in Nordamerika (oder noch schlimmer, in Europa) damit verbracht haben, durch Ihre Arbeit das Geld zu verdienen, das Ihnen den Aufenthalt hier (in Antigua) ermöglicht, wo die Sonne immer scheint und wo das Klima so herrlich heiß und trocken ist während der vier bis maximal zehn Tage, die Sie hier zu verbringen gedenken. Da Sie nun mal im Urlaub sind und da Sie ein Tourist sind, dürfen Sie sich niemals Gedanken machen, wie es denn für jemanden aussieht, der tagein, tagaus in einem Land leben muss, das ständig unter Dürre leidet und deshalb mit jedem Tropfen Wasser sehr sparsam umgehen muss – und dies in unmittelbarer Nähe eines Meeres und eines Ozeans, nämlich der Karibik auf der einen Seite und des Atlantiks auf der anderen.
Sie steigen aus dem Flugzeug. Sie gehen durch den Zoll. Da Sie Tourist sind, ein Nordamerikaner oder Europäer (offen gesagt: ein Weißer) und kein Schwarzer aus Antigua, der aus Europa oder Nordamerika zurückkehrt und seinen Verwandten Pappkartons voller dringend benötigter Billigbekleidung und Lebensmittel mitbringt, gehen Sie rasch und unbekümmert durch den Zoll. Ihr Gepäck wird nicht durchsucht. Nach der Zollabfertigung gelangen Sie hinaus in heiße, saubere Luft; sofort fühlen Sie sich gereinigt, augenblicklich spüren Sie, dass ein Segen auf Ihnen ruht (Sie kommen sich als etwas Besonderes vor), Sie fühlen sich frei. Sie erblicken einen Mann, einen Taxifahrer. Sie bitten ihn, Sie an Ihr Ziel zu bringen. Er nennt einen Preis. Sie denken sofort, der Preis sei in der Landeswährung, denn Sie sind ein Tourist und kennen sich in diesen Dingen (Wechselkurse) aus; Sie fühlen sich sogar noch freier, denn alles scheint so billig zu sein, doch da sagt Ihr Fahrer zum Schluss: »In US-Dollar.« Daraufhin Sie: »Oho! Haben Sie eine amtliche Preisliste dabei mit den Gebühren für die jeweiligen Bestimmungsorte?« Ihr Fahrer unterwirft sich dem Gesetz und zeigt Ihnen das Blatt; er entschuldigt sich für den unglaublichen Fehler, der ihm unterlaufen ist, als er einen Preis aus der Luft griff, der so gewaltig zu seinen Gunsten von der Gebührentabelle abweicht. Dieser Taxifahrer fährt Sie in seinem funkelnagelneuen, in Japan hergestellten Fahrzeug zu Ihrem Hotel. Die betreffende Straße ist sehr schlecht und äußerst reparaturbedürftig. Sie fühlen sich prima, deshalb sagen Sie: »Ach, das ist mal was anderes, auf solchen schlechten Straßen zu fahren. Eine schöne Abwechslung nach den tollen Autobahnen, die ich aus Nordamerika gewöhnt bin!« (Oder, noch schlimmer, aus Europa.) Ihr Fahrer ist rücksichtslos, er ist ein gefährlicher Mensch, der mitten auf der Straße fährt, wenn er glaubt, dass es keinen Gegenverkehr gibt; er überholt andere Autos bergauf in unübersichtlichen Kurven, er fährt mit hundert Sachen auf schmalen, kurvenreichen Straßen, wenn das Verkehrszeichen, ein verrostetes, verbeultes Überbleibsel aus der Kolonialzeit, bloß sechzig Stundenkilometer erlaubt. Das könnte Ihnen Angst einjagen (Sie machen Urlaub, Sie sind Tourist), das könnte aber auch ein Nervenkitzel für Sie sein (Sie machen Urlaub, Sie sind Tourist). Wenn Sie jedoch aus New York stammen und hin und wieder Taxis nehmen, sind Sie mit diesem Fahrstil vertraut: Die meisten Taxifahrer in New York kommen aus Weltgegenden wie dieser hier. Sie schauen aus dem Fenster (man möchte was bekommen für sein Geld) und stellen fest, dass alle Autos weit und breit nagelneu oder fast nagelneu und durchweg japanischer Herkunft sind. Es gibt keine amerikanischen Autos in Antigua, jedenfalls keine neuen; keine, die in den letzten zehn Jahren hergestellt worden sind. Sie schauen sich weiter die Autos an und sagen sich: Komisch, die sehen nagelneu aus, aber sie haben einen schrecklichen Klang, gerade wie ein altes Auto – wie eine uralte Klapperkiste. Wie kommt das? – Nun, das liegt eventuell daran, dass man für diese nagelneuen Autos, deren Motoren für unverbleites Benzin gebaut worden sind, verbleiten Kraftstoff verwendet. Ob das der Fall ist, sollten Sie aber die betreffenden Fahrer nicht fragen, denn diese haben noch nie im Leben von bleifreiem Benzin gehört. Sie schauen sich ein Auto genauer an und stellen fest, dass es ein japanisches Modell ist, das Sie ungern kaufen würden: Es ist ein sehr teures Modell, ein Wagentyp, der ziemlich unpraktisch ist für jemanden, der so hart arbeiten muss wie Sie und der jeden Pfennig dreimal umdreht, damit er sich den Urlaub leisten kann, den Sie gerade machen. Wie können die sich bloß so ein Auto leisten? Und wohnen die auch in einer dem Wagen entsprechenden Luxusvilla? – Das tun sie nicht. Es wird Sie also überraschen, wenn Sie sehen, dass die Besitzer dieser nagelneuen, mit falschem Benzin betankten Autos normalerweise in Häusern wohnen, deren Niveau weit unter dem des Wagentyps liegt. Sollten Sie dann nach dem Grund fragen, würde man Ihnen sagen, dass die Banken von der Regierung dazu ermuntert werden, Kredite für Autos bereitzustellen und bei der Finanzierung von Häusern Zurückhaltung zu zeigen. Sollten Sie abermals nach dem Grund fragen, würde man Ihnen mitteilen, dass die beiden größten Autovertretungen in Antigua teilweise oder ganz Regierungsmitgliedern gehören. Aber bitte sehr, Sie sind ja im Urlaub, und der Anblick dieser nagelneuen Autos mit Fahrern, die eine ordentliche Führerscheinprüfung hinter sich haben oder auch nicht (es gab einmal einen Skandal um erkaufte Führerscheine), ließe bei Ihnen derartige Gedanken wohl gar nicht erst entstehen. Sie fahren an einem Gebäude vorbei, das in einem Meer von Staub steht, und Sie denken: Toiletten für Passanten. Aber wenn Sie erneut hinschauen, sehen Sie an dem Gebäude die Beschriftung PIGGOTT’S SCHOOL. Sie fahren am Krankenhaus vorbei, dem Holberton-Hospital, und darüber denken Sie unvorsichtigerweise gar nicht nach: Was passiert, wenn bei einem Touristen wie Ihnen, der hier Urlaub macht, das Herz ein paar Schläge aussetzt? Was passiert, wenn Ihnen am Hals ein Blutgefäß platzt? Was geschieht, wenn einer von denen, die jene funkelnagelneuen, mit falschem Benzin betankten Autos fahren, es mal nicht schafft, sicher zu überholen, wenn er bergauf in eine Kurve fährt und Sie in dem Auto sitzen, das aus der Gegenrichtung kommt? Wird es Sie beruhigen zu erfahren, dass das Krankenhaus über Ärzte verfügt, denen kein Einheimischer traut? Dass die Antiguaner über ihre Ärzte immer nur sagen »Sie sollen mir bloß nicht zu nahe kommen!«? Dass die Einheimischen sie nicht als Ärzte bezeichnen, sondern als »die drei Männer« (es gibt ihrer drei)? Dass der Minister für das Gesundheitswesen, wenn es ihm selbst nicht gut geht, das erstbeste Flugzeug nach New York besteigt, um zu einem richtigen Arzt zu gehen? Dass ein jeder Minister nach New York fliegt, wenn er medizinische Betreuung braucht?
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