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Wenn dieser Beitrag erscheint, wird die Welt vor ihrer größten wirtschaftlichen Herausforderung seit Generationen stehen. In den USA und in Großbritannien haben Unternehmen tausende von Arbeitnehmern „beurlaubt“, in Asien hat eine große Anzahl von Arbeitnehmern ihren Arbeitsplatz verloren. In einer Vielzahl europäischer Länder haben Regierungen lokale Äquivalente zur international bewunderten deutschen Kurzarbeit geschaffen und es so ermöglicht, dass Millionen von Arbeitnehmern bei Verringerung ihrer Arbeitszeit weiterhin ein zwar gekürztes, aber zum Teil staatlich subventioniertes Einkommen erhalten. Sehr viele Unternehmen werden in der zweiten Hälfte des Jahres 2020, spätestens 2021, insbesondere nach Ablauf der kurzfristigen Maßnahmen, darüber nachdenken müssen, welche Arbeitskräfte sie in einer veränderten Welt benötigen Umstrukturierungen werden, egal in welcher Form, unvermeidlich sein. So werden einige global tätige Unternehmen Vermögenswerte oder Geschäftsanteile verkaufen oder auf die Unterstützung von Finanzinvestoren angewiesen sein. Andere Unternehmen werden die Beschäftigungsbedingungen ändern oder sogar Mitarbeiter entlassen. Einige Unternehmen werden auch von der Insolvenz bedroht sein. Hochkarätige juristische Beratung wird weiterhin gefragt sein.
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Ein globales oder europaweites, gerichtsbarkeitsübergreifendes Umstrukturierungsprojekt wirft unweigerlich eine Vielzahl arbeitsrechtlicher Fragen auf. Viele dieser Themen werden, zumindest bei innereuropäischen Projekten, einem deutschen HR- oder Arbeitsrechtsspezialisten vertraut sein. Zwischen einzelnen Jurisdiktionen bestehen allerdings zum Teil erhebliche Unterschiede in rechtlichen Aspekten, die für die beiden wichtigsten Grundlagen eines Projekts – Timing und Kosten – entscheidend sind. In vielen Ländern, vor allem in Europa, haben die Informations- und Konsultationsprozesse mit den Sozialpartnern, wie Gewerkschaften und Betriebsräten, wesentliche Auswirkungen auf das gesamte Projekt, von der Kommunikations- und Öffentlichkeitsstrategie über die Umsetzung der Maßnahmen bis hin zur Budgetierung der Kostenkalkulation. Um unerwünschte Überraschungen und Hürden zu vermeiden, die schnell unüberwindbar erscheinen und das gesamte Projekt zum Entgleisen bringen können, ist eine strukturierte rechtliche Planung daher unverzichtbar. Auch wenn internationale Umstrukturierungsprojekte zu Beginn abschreckend wirken, können sie sehr wohl – eine gute Umsetzung und Kommunikation vorausgesetzt – zum Erfolg führen und das Unternehmen sowie vertrauensvolle Beziehungen zu den Stakeholdern für die Zukunft stärken.
1Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, Rn. B 2. 2Vgl. Deinert, RdA 2001, 368, 369; Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, Rn. B 39. 3Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, Rn. B 2, B 55. 4Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: China. 5Frik, NZA 2008, 86, 90. 6Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Vereinigte Staaten von Amerika. 7Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Kanada. 8Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Brasilien. 9Powietzka, in: Grobys/Panzer-Heemeier, Stichwort: Wirtschaftsausschuss, Rn. 1. 10Wie vor. 11Vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. a RL 2009/38/EG. 12Vgl. Art. 6 RL 2009/38/EG. 13Vgl. Art. 6 RL 2009/38/EG. 14Müller-Bonanni/Witschen, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 17.55. 15Müller-Bonanni/Witschen, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 17.58. 16Müller-Bonanni/Witschen, in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, Rn. 17.124. 17Kühn, in: Annuß/Kühn/Rudolph/Rupp, EBRG, § 30 Rn. 14. 18Kühn, in: Annuß/Kühn/Rudolph/Rupp, EBRG, § 30 Rn. 12. 19Breitfeld, in: Boecken/Düwell/Diller/Hanau, § 1 EBRG Rn. 2. 20Siehe Art. 11 Abs. 2 RL 2009/38/EG. 21§ 45 Abs. 1 EBRG. 22§ 45 Abs. 2 EBRG. 23LAG Köln, 8.9.2011 – 13 Ta 267/11 – BB 2012, 197 (199); ArbG Köln, 22.5.2012 – 5 BV 208/11 – BeckRS 2012, 71403. 24Siehe hierzu Middendorf, in: Grobys/Panzer-Heemeier, Stichwort: Europäischer Betriebsrat, Rn. 4. 25Siehe Blanke/Rose, RDA 2008, 65, 72f. 26Grobys, NZA 2005, 84, 89. 27Vgl. § 27 SEBG. 28Kleinebrink, in: Minn/Stück/Laber, Stichwort: Formen der Mitbestimmung, I. 29Koch, in: Schaub/Koch, Arbeitsrecht, Stichwort: Betriebsrat (Beteiligungsrechte), I. 1. (a). 30Vgl. § 106 Abs. 2 Nr. 9a BetrVG. 31ErfK/Kania, § 106 BetrVG Rn. 4. 32ErfK/Kania, § 106 BetrVG Rn. 4. 33Annuß, in: Richardi, BetrVG, § 106 Rn. 23. 34§ 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG. 35Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Frankreich. 36Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Belgien. 37Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Spanien. 38Kleinebrink, in: Minn/Stück/Laber, Stichwort: Formen der Mitbestimmung, I., II. 39§ 111 Abs. 1 Satz 1 BetrVG. 40Fitting, BetrVG, § 111 Rn. 5. 41§ 113 BetrVG. 42Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Niederlande. 43§ 102 Abs. 3 Nr. 1 BetrVG. 44§ 102 Abs. 5 BetrVG. 45Kleinebrink, in: Minn/Stück/Laber, Stichwort: Formen der Mitbestimmung, V. 46Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Niederlande. 47Kleinebrink, in: Minn/Stück/Laber, Stichwort: Formen der Mitbestimmung, VI. 48§ 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG. 49Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Polen. 50EuGH, Urt. v. 10.9.2009 – C 44/08. 51EuGH, Urt. v. 10.9.2009 – C 44/08. 52Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Niederlande. 53Vgl. § 17 KSchG. 54Siehe hierzu Frik, NZA 2008, 86 89. 55Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Argentinien. 56Becker, in: Handbuch internationales Arbeitsrecht, Stichwort: Südafrika. 57Spelge, in: Franzen/Gallner/Oetker, RL 98/59/EG Art. 1 Rn. 20. 58EuGH, 11.11.2015 – C-422/14 Rn. 47f. – Pujante Rivera, NZA 2015, 1441. 59Spelge, in: Franzen/Gallner/Oetker, RL 98/59/EG Art. 1 Rn. 21a. 60Siehe Art. 1 Abs. 1 lit. a EMRL. 61§ 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG. 62Art. 51 Nr. 1 lit. a–c ET. 63Section 6 Abs. 1 Protection of Employment Act 1977. 64§ 45a Abs. 1 Nr. 1–3 AMFG. 65Section 188 Abs. 1 TULR(C)A 1992. 66Krebber, RdA 2018, 271, 282. 67Siehe hierzu Krebber, RdA 2018, 271, 282. 68§ 17 Abs. 2 KSchG. 69Section 188 Abs. 1B TULR(C)A 1992. 70§ 45a Abs. 4 AMFG. 71BAG, 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, NZA 2017, 175. 72Siehe hierzu Zerdelis, RdA 2016, 245, 254. 73EuGH, ECLI:EU:C:2005:59 = NJW 2005, 1099 – Junk. 74Johnson, BB 2019, 1909, 1912. 75§ 17 Abs. 2 KSchG, § 134 BGB. 76Siehe Krebber, RdA 2018, 271, 285. 77Section 189 TULR(C)A 1992. 78Section 11A lit. c Protection of Employment Act 1977. 79Krebber, RdA 2018, 271, 285. 80Krebber, RdA 2018, 271, 285. 81Section 194 TULR(C)A 1992. 82§ 623 BGB. 83Art. 2 des Gesetzes Nr. 604/1966. 84Siehe für Deutschland: § 126 Abs. 1 BGB. 85Art. 123-3 AGB. 86§ 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG.
A. Betriebsänderungen im Sinne des § 111 BetrVG
Abschnitt 1 – Perspektive Arbeitgeber
I. Vorbemerkung
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Bei der Umstrukturierung eines Unternehmens, etwa aus wirtschaftlichen Gründen, stellt sich für den Arbeitgeber regelmäßig die Frage, bei welchen konkreten Maßnahmen eine Beteiligung des Betriebsrats erforderlich ist und in welchem Rahmen diese zu erfolgen hat. Etwaige Beteiligungsrechte des Betriebsrats sind insbesondere im Hinblick auf den zeitlichen Ablauf sowie die Kosten der Umstrukturierung zu berücksichtigen. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei den sogenannten wirtschaftlichen Angelegenheiten sind gegenüber anderen Beteiligungsrechten, etwa der zwingenden Mitbestimmung bei sozialen Angelegenheiten, zwar weniger durchgreifend, da der Betriebsrat die Umstrukturierung des Unternehmens nach den Vorstellungen des Arbeitgebers nicht verhindern kann, der Betriebsrat hat aber die Möglichkeit, die Umstrukturierung zeitlich zu verzögern und einen Sozialplan zu erzwingen, der dem Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile der Umstrukturierung für die Beschäftigten dient.
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