183
Grundsätzlich sind sowohl die nationalen Gremien als auch der Europäische Betriebsrat rechtzeitig im Hinblick auf die geplante Umstrukturierung zu beteiligen, sodass die Standpunkte der jeweiligen Arbeitnehmervertretung noch berücksichtigt werden können.
184
Die Regelungen über den Europäischen Betriebsrat enthalten keine Vorschriften zur zeitlichen Reihenfolge der jeweiligen Beteiligungsrechte. Es gibt weder einen generellen Vorrang für die Beteiligung des Europäischen Betriebsrats noch für die Beteiligung der nationalen Arbeitnehmervertretungen. Besondere Vorschriften können sich jedoch entweder aus der jeweiligen Europäischen Betriebsrats-Vereinbarung oder aus nationalem Recht ergeben. Es gilt allerdings der Grundsatz, dass der Europäische Betriebsrat die Beteiligungsrechte der nationalen Arbeitnehmervertretungen nicht aushebeln kann.
185
Da sich der Europäische Betriebsrat aus Arbeitnehmervertretern der nationalen Gremien zusammensetzt, ist ein Unternehmen auch hier dem Risiko der Weitergabe von Informationen durch die Arbeitnehmervertreter in ihre jeweiligen nationalen Gremien ausgesetzt. Um gegenüber etwaigen beteiligungsberechtigten nationalen Gremien nicht den Eindruck zu erwecken, man wolle sie umgehen, ist eine zeitnahe Beteiligung ratsam. Alternativ bietet sich zumindest die zeitnahe Ankündigung einer entsprechend den gesetzlichen Vorschriften stattfindenden Beteiligung der nationalen Arbeitnehmervertretungen an.
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Es handelt sich mithin um keine rein rechtliche Frage, sondern vielmehr um eine Frage der jeweiligen Ausgestaltung in der Praxis. Das Unternehmen muss einen Weg zwischen einer weiteren vertrauensvollen Zusammenarbeit mit allen Arbeitnehmervertretungen einerseits und der Wahrung von Unternehmensinteressen andererseits finden. Es ist letztlich Aufgabe der Konzernleitung und ihrer Berater, eine möglichst effiziente Koordinierung der verschiedenen Ebenen der Arbeitnehmervertretungen zu bewerkstelligen. Empfehlenswert ist eine zeitlich nah beieinander liegende Beteiligung, damit für jedes Beteiligungsverfahren ausreichend Zeit bleibt. Es ist jedoch auch immer ratsam, sich ein gewisses Maß an Flexibilität einzuräumen.
bb) Unternehmerische Entscheidung/auslösendes Ereignis
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In Zusammenhang mit der Frage, zu welchem Zeitpunkt die Arbeitnehmervertretungen zu beteiligen sind, kommt es immer auf das das jeweilige Beteiligungsrecht auslösende Ereignis an. Das sog. auslösende Ereignis variiert je nach Beteiligungsrecht und Jurisdiktion. Als allgemeingültiges Prinzip gilt jedoch, dass zum Zeitpunkt der Beteiligung die Maßnahme noch nicht vollzogen worden sein darf und dem jeweiligen Gremium ausreichend Raum zur Stellungnahme und Einflussnahme zu gewähren ist. In der Regel ist auslösendes Ereignis des jeweiligen Beteiligungsrechts die getroffene unternehmerische Entscheidung zur Durchführung einer Maßnahme, d.h. die entsprechende Entscheidung muss unumgänglich sein. Solange sich ein Unternehmen noch in der Planungsphase befindet und einzelne Optionen durchspielt, werden in der Regel noch keine Beteiligungsrechte ausgelöst.
188
An dieser Stelle treffen die gesetzlichen Vorgaben teilweise auf die tatsächliche praktische Umsetzung. Beispiele sind reine Informationsrechte, die dem jeweiligen Gremium kein Vetorecht einräumen, sodass letztlich auch keine richtige Einflussnahme möglich ist. So ist es beispielsweise gängige Praxis in Deutschland, den Wirtschaftsausschuss erst wenige Tage vor Unterzeichnung eines Gesellschafterkaufvertrags über den Kontrollwechsel zu informieren – auch wenn die Unterrichtung gemäß § 106 BetrVG „rechtzeitig“ zu erfolgen hat. Ob dem Wirtschaftsausschuss tatsächlich genügend Zeit zur Stellungnahme gewährt wird, kommt zwar auf den Einzelfall an, ist aber jedenfalls bei einer solchen Vorgehensweise fraglich.
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Der EuGH hat z.B. mit Blick auf die europäische Massenentlassungsrichtlinie (RL 98/59/EG) entschieden, dass die „Pflicht zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter nach der europäischen Massenentlassungsrichtlinie mit dem Zeitpunkt des Erlasses einer Entscheidung über eine Restrukturierung des Betriebs entsteht, unabhängig davon, ob die Entscheidung durch den Betriebsinhaber oder eine übergeordnete Konzernleitung getroffen wird“.50 Die Konsultation muss spätestens zu dem Zeitpunkt abgeschlossen sein, zu dem der Betriebsinhaber die Arbeitsverträge der von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer kündigt.51 Auch diese Vorgaben sind in der Praxis in den seltensten Fällen umsetzbar.
190
Zu Problemen kann es in diesem Zusammenhang kommen, wenn z.B. die Konzernmutter und somit die Konzernleitung im Ausland sitzt und eine unternehmerische Entscheidung trifft, die beispielsweise eine deutsche Gesellschaft betrifft.
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Die deutsche Geschäftsführung erfährt nun im Nachgang von der unternehmerischen Entscheidung und muss je nach Maßnahme das jeweils zuständige Gremium beteiligen. Die insbesondere bei echten Mitbestimmungsrechten zugesprochene Einwirkungsmöglichkeit der Arbeitnehmervertretungen wird jedoch oftmals abgeschwächt, da die unternehmerische Entscheidung schon längst getroffen und unumkehrbar ist und die Maßnahme an sich nicht mehr vermeidbar ist. Das Mitbestimmungsrecht wird folglich auf die Umsetzungsmodalitäten der Maßnahme limitiert. Das wird jedoch in der Regel zu einer abgeschwächten Verhandlungsposition der deutschen Geschäftsführung führen. Das Gremium wird sich des Umstandes bewusst sein, dass Konzernmutter und Geschäftsführung des deutschen Unternehmens auf seine Kooperation angewiesen sind und es entsprechend höhere Forderungen zwecks Umsetzung des Vorhabens verlangen kann.
d) Folgen bei Missachtung der Beteiligungsrechte
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Die Missachtung von Beteiligungsrechten kann unterschiedliche Rechtsfolgen auslösen: So drohen dem Unternehmen nicht nur Geldbußen oder die Verpflichtung zu Nachteilsausgleich, sondern die Missachtung von Beteiligungsrechten kann auch zu erheblichen zeitlichen Verzögerungen bis hin zu einer kompletten Einstellung der Restrukturierungsmaßnahme führen. In einigen Jurisdiktionen, wie zum Beispiel in den Niederlanden52 und Frankreich, kann ein Verstoß zu einer zeitweisen Aussetzung der Maßnahmen führen. Die Maßnahme kann erst dann umgesetzt werden, wenn das Beteiligungsverfahren nachgeholt bzw. vollständig umgesetzt wurde. Teilweise können die Verzögerungen und die langanhaltenden Streitigkeiten mit den Arbeitnehmervertretungen derart Druck auf die Unternehmensleitung ausüben, dass es am Ende zum kompletten Aussetzen der Maßnahme kommt. Auch vor diesem Hintergrund zeigt sich erneut, dass eine frühzeitige Einbindung der Arbeitnehmer und der Arbeitnehmervertretungen zu einer Vermeidung von solchen Streitigkeiten führen kann.
4. Anzeigepflichtige Restrukturierungsmaßnahmen
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In der Regel müssen Restrukturierungsmaßnahmen den Behörden nicht angezeigt werden. Dennoch empfiehlt sich, bestehende nationale Anzeigeverpflichtungen frühzeitig zu prüfen (dies gilt insbesondere für Jurisdiktionen im asiatischen Raum). Eine Ausnahme besteht jedenfalls im europäischen Raum beim Personalabbau: Beabsichtigt ein Arbeitgeber in Betrieben innerhalb der EU Massenentlassungen durchzuführen, sind die jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften über Massenentlassungen, die die europäische Massenentlassungsrichtline 98/59/EG („ MERL“) umsetzen, zu beachten. Voraussetzung ist stets, dass der Arbeitgeber vor einer geplanten Massenentlassung Arbeitnehmervertreter konsultiert und die zuständige Behörde, in Deutschland die Agentur für Arbeit, von der geplanten Massenentlassung in Kenntnis setzt.53
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Auch außerhalb der EU können Massenentlassungen für den Arbeitgeber Pflichten auslösen. So enthält beispielsweise das chinesische54 Arbeitsrecht der MERL ähnliche Regelungen. Das argentinische55 und südafrikanische56 Arbeitsrecht sehen beispielsweise jeweils eine Beratungspflicht mit Gewerkschaften vor.
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