»Wir müssen es zurück ins Nest tun«, sagt Frau Weißbrot.
»Bloß nicht anfassen!«, ruft Frau Sperling, die Wackeldame, die sich energisch mit dem Stock nach vorn durchdrängelt. »Die Mutter nimmt es nicht mehr an, wenn es nach Mensch riecht.« Sie schaut vornübergebeugt auf das Vogelbaby und wackelt heftig mit dem Kopf.
»Ach was«, ruft einer der rauchenden Opas. »Das ist nur bei Rehkitzen so. Die darf man nicht anfassen.«
»Was wissen Sie denn schon!«, entgegnet Frau Sperling und ruft in die Runde: »Wir brauchen Handschuhe und eine Leiter.«
»Da kommt ja schon der Schulz«, sagt Frau Weißbrot und deutet auf den Mann im grauen Kittel, der über den Rasen stiefelt. Sieht original aus wie ein Hausmeister. Er nähert sich gemächlich der Unfallstelle.
»Verdammt und zugenäht«, schimpft er. »Da hab ich doch glatt ein Nest übersehen.« Der Mann kratzt sich an seinem unrasierten Kinn. »Die kacken hier alles voll.«
»Aber Herr Schulz, das sind doch Schwalben!«, sagt Frau Weißbrot.
»Singvögel!«, sagt die Musiklehrerin.
»Dann sollen die woanders singen«, knurrt der Hausmeister und dreht sich um. »Also, meine Herrschaften, alle ins Haus, ich kümmere mich darum!«
»Was wollen Sie denn tun?«, fragt Frau Weißbrot entsetzt.
»Ich hole eine Schaufel und erledige das Problem.« Er deutet mit dem Kinn auf das Vogeljunge am Boden.
»Unterstehen Sie sich!« Die Wackeldame macht einen Schritt auf ihn zu und stampft entschlossen mit ihrem Gehstock auf. Ihr Kopf wackelt heftiger als zuvor. »Der Vogel kommt zurück ins Nest! Aber sofort!«, befiehlt sie dem Hausmeister mit festem Ton, mindestens so fest wie ihr Händedruck vorhin. »Los! Holen Sie eine Leiter! Und du, Franz …«, sie wendet sich wackelnd an Luis und sagt mit weicher Stimme, »… sei so lieb und geh in mein Zimmer, Parterre, Nummer zwei, die Tür mit den Glockenblumen. In der Kommode, erste Schublade links, liegen meine Handschuhe.«
»Du bist der Franz?«, fragt der Hausmeister und sieht Luis mit vor Erstaunen geweiteten Augen an.
»Ich bin der Luis«, sagt Luis.
»Nun wird aber nicht mehr getrödelt!«, ruft Frau Sperling und pocht noch mal fest mit dem Stock auf. »Hopp, hopp!«
Der Hausmeister guckt grimmig in die Runde. Die Senioren gucken grimmig zurück. Alle wollen den Vogel retten, auch der Rest der Mensch-ärgere-dich-nicht-Liga hat sich nun ebenfalls mit Rollatoren versammelt. Nur die kleine Frau mit den weißen Locken, die das »R« rollt, ist ohne Gehhilfe noch sehr gut zu Fuß. Sie steht da, mit zusammengepressten Lippen und vorgerecktem Kinn, und lächelt den Vogel an.
Der Hausmeister schüttelt den Kopf und knurrt vor sich hin: »Da haben die zwei Weltkriege überlebt und machen so ein Theater wegen einem Vogel.«
›Was für ein blöder Spruch‹, denkt Luis und läuft los, die Handschuhe holen. Kurz nach Luis kommt auch der Hausmeister mit der Leiter wieder zur Unfallstelle. Zum Glück ohne Schaufel. Mürrisch stellt Herr Schulz die Leiter im Beet ab und streckt die Hand vor Luis aus.
»Na gib schon her!« Er deutet auf die hellblauen Stoffhandschuhe, die Luis in der Hand hält.
»Unterstehen Sie sich!«, drängt Frau Sperling sich dazwischen und hebt drohend ihren Stock. »Franz soll den Piepmatz ins Nest tun.«
»Luis«, sagt Luis.
Der Hausmeister verdreht die Augen und seufzt. Luis zieht die Handschuhe an und hebt vorsichtig das Vogelbaby auf. Es piepst und zittert am ganzen Leib und versucht, ihn mit dem kleinen Schnabel in den Finger zu picken.
»Ist ja schon gut«, beruhigt er die kleine Schwalbe und steigt die Leiter hoch. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Die Senioren fiebern bei jeder Sprosse, die er hochsteigt, mit, als würde er den Mount Everest erklimmen.
»Was für ein Aufwand«, brummt der Hausmeister.
»Halten Sie lieber die Leiter fest«, pfeift Frau Sperling ihn an. »Damit Sie auch mal was Nützliches tun.«
Luis steht nun auf der obersten Sprosse und schiebt den Vogel vorsichtig ins Nest zurück. Sofort ertönt ein lautes Piepsen. Kleine Flaumfedern wirbeln heraus. Was für eine Begrüßung! Da freuen sich die Geschwister aber, dass er wieder da ist.
»So, ist nun gut?« Der Hausmeister guckt zu ihm hoch.
Luis wartet noch einen Moment, bis es ruhiger wird im Nest. Dann klettert er die Leiter runter.
Die alten Leute klatschen, jubeln ihm zu. Er kommt sich vor wie ein echter Retter, auch wenn er nur einen kleinen Vogel nach Hause gebracht hat. Luis sonnt sich noch ein bisschen in den Bravo-Rufen, dann hört man eine Stimme: »Abendbrot!«
Die Bewohner recken die Köpfe und begeben sich unverzüglich auf den Weg zum Speisesaal. Von allen Seiten kommen sie, die meisten mit ihren Gehhilfen. Vor der Tür werden die Rollatoren ordentlich in Zweierreihen geparkt. Alle haben was anderes in ihrem Körbchen: Zeitschriften, Häkelzeug, Strickjacken; in einem sitzt ein Plüschpinguin, in einem anderen Korb liegt das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Zwei Betreuerinnen begleiten die Senioren vom Parkplatz bis an den Tisch. Julia kommt mit einem Mann im Rollstuhl angeschoben. Es ist der dicke Mann, der mit dem verschluckten Wasserball. Er meckert, weil er lieber selber fahren will.
»Das glaube ich Ihnen gern, Herr Klabowski«, sagt Julia und lacht auf. »Aber hier wird nicht gerast.« Sie schiebt ihn in den Speisesaal. »Du kannst natürlich mitessen!«, ruft sie Luis zu.
»Was gibts denn?«
»Abends immer Stulle«, mischt sich ein Herr ein, der gerade um die Ecke kommt und Luis verschmitzt anschaut. Er ist groß und hat einen weißen, spitz zulaufenden Bart, dunkle Augen, buschige Brauen und riesige, abstehende Ohren. Solche Segelohren hat Luis ja noch nie gesehen. So verschmitzt leuchtende Augen auch nicht – oder doch! Jetzt fällt es ihm wieder ein, dieser steinalte James-Bond-Darsteller, den Oma Heike so toll findet, der konnte auch so verschmitzt gucken. Sean Connery. Luis starrt den stattlichen Mann vor sich an. Die Ohren sind echt riesig, fast so groß wie die des GuRie, dem guten Riesen aus dem Buch »Sophiechen und der Riese«, mit dem er und Mama früher so einen Mordsspaß hatten.
KAPITEL 4,
in dem Häppchen in einem Apfelsaftsee
schwimmen und Luis einen Auftrag annimmt
»Ferien im Haus Erlengrund ?«, fragt der Mann erstaunt, der nicht James Bond, sondern Karl Radauke heißt. Luis soll ihn aber Karl nennen, denn unter Gentlemen spräche man sich immer mit Vornamen an. Er könne ihn auch ruhig duzen.
»Na ja, eigentlich … nicht richtig Ferien«, stammelt Luis und versucht, Karls Segelohren nicht zu sehr anzustarren. »Ich bin nur ein paar Tage da, weil meine Mutter …«
»Darf ich mal vorbei?« Eine Frau stößt energisch mit dem Rollator gegen Karls Krücke, die er so locker in der Hand hält wie einen Spazierstock. Es ist die Frau mit dem Blumenhaarreif, die vorhin beim Menschärgere-dich-nicht den Mitspielerinnen Anweisungen gegeben hat.
»Aber bitte schön, Frau Osterhas«, sagt Karl und tritt zur Seite. »Warum so eilig? Die Stullen laufen doch nicht weg.«
»Das sind Schnittchen, Herr Rabauke«, erwidert die Frau.
»Radauke, Frau Schneewittchen«, kontert Karl und grinst.
»Von wegen Schneewittchen«, zischt Frau Osterhas zurück, schiebt mit erhobenem Kopf an ihm vorbei und parkt ihren Rollator in der zweiten Reihe. Karl zwinkert Luis zu.
»Komm doch mit an meinen Tisch«, lädt Karl ihn ein. »Ich sitz da hinten eh allein. Mein Tischnachbar ist letzte Woche verstorben.«
»Oh«, sagt Luis und geht mit ihm zu seinem Tisch. Er setzt sich ihm gegenüber. Vor dem Fenster, mit der Sonne im Rücken, glühen die Ohren von Herrn Radauke so orange wie die Scheiben eines Hokkaidokürbises.
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