1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Philipp merkte, dass er zu zittern begann. Was bedeutete dies? War der Verhüllte ein Ritter? Was hatte er vor? Wozu brauchte er das Kopialbuch?
Die Kopialbücher wurden sorgfältig gehütet, denn sie waren wichtig. Was, wenn jenes, das er holen sollte, gerade in Benutzung war, was durchaus vorkam, wenn es etwas zu klären gab. Er wusste, dass der Registrator eine Liste jener Schreiber führte, die eines der Bücher entliehen hatten. Und Lehenprobst Zweifel, der ebenfalls in der Registratur tätig war und die Lehenssachen bearbeitete, hatte ein ebenso wachsames Auge auf die ihm anvertrauten Unterlagen. Philipp hätte schreien mögen. Seine rechte Hand schmerzte, sein Kopf tat weh. Er durfte hier nicht sein. Er wollte hier nicht sein. Nachdenken. Er kannte die Sorgfalt, mit der Heberer arbeitete, um dem Durcheinander des Archivums Herr zu werden. Immer wieder klagte er über die Anstrengung, die es kostete, die alten Bestände in eine Ordnung zu bringen. Zwar standen Truhen und Kästen halbwegs sorgfältig in den Regalen und auf dem Boden, dennoch konnte Philipp keine bestimmte Gliederung erkennen. Er ging einige Schritte, leuchtete in den rechten hinteren Teil des Raumes, sah dort Säcke lagern, deren Ausbuchtungen darauf schließen ließen, dass auch sie Schriftrollen enthielten. Zwischen den Säcken standen Truhen, die in schlechtem Zustand waren, ihr Holz war an vielen Stellen morsch und faulig. Manche waren übereinandergestapelt, und im Laufe der Zeit waren einige der unteren Kisten eingebrochen von der Last jener über ihnen, müde vom Tragen. Philipp wurde zunehmend unruhiger. In dieser Ecke verschwendete er seine Zeit. Doch erst wenn er dem Entführer das Buch gebracht hatte, würde er erfahren, was weiter geschähe. Wann er Hedwig und Juli wiederbekäme. Und wie.
Er wandte sich der gegenüberliegenden Ecke zu, leuchtete gewissenhaft die Regalreihen ab. In Augenhöhe vor sich hob er den Deckel eines Kastens – und fand, was er suchte. Im spärlichen Lichtschein erkannte er das Register, das ihm sagte, dass hier die Kopialbücher lagerten, die zu Regentschaftszeiten Ludwigs VI. angelegt worden waren, des Sohnes und Nachfolgers Friedrichs III. In den Reihen darüber standen wohl die Kisten mit den noch älteren Registerbüchern. Philipp stellte seine Lampe auf den Boden, hob den Kasten herunter und zerrte ihn ein wenig nach rechts auf eine andere Truhe zu, wobei er über das laute, schleifende Geräusch erschrak. Er hielt inne, lauschte.
Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen.
Sonst Stille.
Schließlich griff er die Lampe, stellte sie auf die Nachbartruhe, öffnete den Kasten und durchsuchte ihn. Dann hielt er es in Händen. Ledereinband mit gepresstem Druck, Verschlussbänder aus Leder. Das Lehenbuch Friedrichs III. Eine Auflistung jener Vasallen, denen damals ihre Lehen zugeordnet worden waren. Nachdenklich blickte er auf das dicke Buch in seinen Händen.
Was wusste er über die Ritterschaft und das Lehenswesen? Ein Lehen war etwas, ein Dorf, eine Burg oder Zölle, das ein Lehensmann von seinem Lehensherrn, in diesem Fall dem Kurfürsten, geliehen bekam. Er wurde mit einem Lehensbrief in das Lehen eingesetzt. Dafür schwor der Lehensmann dem Lehensherrn einen Treueeid. Den Empfang der Güter und dass er den Eid geleistet hatte, beurkundete der Lehensmann durch ein Lehensrevers, das er an den Lehensherrn übergab. Er durfte das Lehen besitzen und nutzen, jedoch nur mit Zustimmung des Lehensherrn veräußern. So war es seit ewigen Zeiten, so war es bis heute. Damit niemand vergaß, wer wann von wem welches Gut oder Dorf als Lehen erhalten hatte, wurden Bücher darüber geführt, die eine Übersicht über die landesherrlichen Besitzungen gaben: die Lehenbücher.
Dies konnte nur eines bedeuten: Der Verhüllte, der draußen irgendwo auf ihn lauerte, war wirklich ein Vasall. Oder handelte im Auftrag eines Vasallen. Philipp dachte an die ledernen Stulpenhandschuhe, verschlissen, fleckig … Warum wollte er das Kopialbuch haben? Er wollte … etwas ändern? Das konnte er doch nicht wagen! Die Kopialbücher waren sauber zu führen, man durfte keine Veränderungen vornehmen. Allein der Registrator, so wusste Philipp von Heberer, durfte, wenn er Mängel entdeckte, Berichtigungen einfügen.
Nicht so viel nachdenken, Philipp Eichhorn, gemahnte er sich. Je weniger du weißt, desto besser. Bring ihm das Buch, es geht um das Leben deines Weibes! Tue, was er verlangt, und du wirst Hedwig und Juli wiedersehen.
Entschlossen packte er Buch und Laterne und wandte sich der Tür zu. Er betrat die Schreibstube der Registratur – und zuckte jäh zusammen. Stimmen im Flur.
Rasch schloss er die Tür zum Gewölbe, blickte sich hastig um, legte das Kopialbuch zuoberst in die Kiste mit den Oberpfälzer Briefen auf Heberers Schreibtisch.
Dann löschte er die Kerze in der Laterne, duckte sich neben einen Schrank. Keine Sekunde zu spät.
Die Tür zur Stube ging auf.
„Dieser dreckige Hurensohn!“
Nickel!
„Dem werd ich morgen was flüstern!“, polterte der obere Kanzleiknecht.
„Was willst du hier?“, lallte Michel Ley. „Ist doch nichts!“
„Dieser Hurensohn! Ich sag, der soll sich abmelden, und er tut’s nicht!“
„Weiß ich!“, brummte Ley.
„Also frag nicht, was ich hier will, Schafsarsch! Nachschauen muss ich! Ob alles seine Ordnung hat.“ Ein Grunzen. Licht huschte näher. Philipps Herz raste, er atmete flach.
„Lass mir doch nichts anhängen von dem!“
Ihm wurde heiß vor Anspannung. Wonach sah es wohl aus, sollten sie ihn hier entdecken, im Dunkeln, neben einen Schrank gekauert?
„’s riecht nach …“
„Maul!“
„Mein ja nur, es kann noch nicht lang her sein, dass er weg ist. Riecht nach eben gelöschter Kerze.“
„Heberer war noch hier, als ich hochging. Wird grad gegangen sein.“
Das Laternenlicht huschte gen Tür. „Wette, der hat den Rundgang nicht gemacht. Ich schwör dir, dem hau ich morgen die Fresse blau.“
Die Tür schloss sich. Dunkelheit flutete die Schreibstube.
Philipp atmete gepresst aus. Widersprüchliche Gedanken wirrten durch seinen Kopf. Alles verwirkt. Hätte er nicht soeben die Möglichkeit gehabt, sich Nickels und Michels Hilfe zu sichern? Er hatte es nicht getan. Er raufte sich einmal mehr das Haar. Nein, sinnlos, Nickel hätte zu Recht etwas Unlauteres vermutet, hätte er ihn hier ertappt. Und die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, seine Wut gegen ihn auszuspielen.
Nein, er konnte nichts anderes tun als das, was der Entführer von ihm verlangte, solange er nicht wusste, wo Hedwig war.
Er trat aus der Kanzlei, schickte vorsichtig Blicke die Gasse hinauf und hinunter, ehe er abschloss.
Nichts. Niemand.
Das Buch trug er unterm Mantel, hielt es im Arm, dicht an den Körper gepresst.
Er stieg die Stufen hinunter. Noch immer schneite es, wenn auch nicht mehr so heftig wie am frühen Abend. Dort, wo Hans zuvor gefegt hatte, lag eine neue weiße Decke aus Schnee auf dem Pflaster.
Hedwig. Juli. Wo waren sie?
Eine Gestalt eilte um die Ecke von der Kanzleigasse her, geradewegs auf ihn zu, hob den Arm.
„Philipp!“
Kilian!
Den konnte er nun gar nicht gebrauchen. Aber da war sein Freund schon heran. Etwas außer Atem vom raschen Gehen, Atemwölkchen in die Luft stoßend und einen Geruch nach Pferd verbreitend. „Dachte mir, dass du noch in der Kanzlei bist. Wurde also spät, was?“
Kilian schob die Kapuze aus der Stirn und sah ihn an.
Philipp spähte rasch umher. Wo war der Fremde? Lauerte er in der Nähe und beobachtete, wie er mit Kilian sprach? Die Obere Kalte Talgasse lag verlassen.
„Was ist?“, fragte Kilian, hielt die gewölbten Hände vors Gesicht und blies warmen Atem hinein.
„Nichts.“ Sein Herz raste. Gäbe es eine Möglichkeit …?
„Ich war bei euch. Hedwig ist nicht da“, sagte Kilian, ließ die Arme sinken und trat auf der Stelle.
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