„Ah, du stehst schon bereit, Eichhorn, bestens.“ Mit diesen Worten reichte Advokat Schöner ihm die Laterne, um sich den Mantel umlegen zu können, den er über dem Arm getragen hatte. Der Mantel verhüllte alsdann Schmuckkette und Halskrause und wurde mit einem Seufzer geschlossen. Das Barett bereits auf dem Kopf, schritt der Doktor zur Tür.
Philipp stellte die Laternen neben sich auf den Boden, fischte den Schlüsselbund vom Gürtel und schloss dem Kanzleiverwandten auf. „Einen schönen Martinsabend, Doktor Schöner.“
Der Advokat hob die Hand zum Gruß und bedachte ihn mit einem Nicken, das „Ja, ja, schon recht“ heißen mochte, blieb auf der oberen Stufe stehen und sah müde in den noch immer fallenden Schnee. Er brummte etwas Unverständliches, während Philipp sich beeilte, eine Laterne wieder aufzunehmen, um dem Kanzleiverwandten die Stufen zu beleuchten. „Gebt acht auf den Weg, Advokatus Schöner. Wollt Ihr die Laterne nehmen?“
Schöner winkte verneinend ab, wünschte ihm eine gute Nacht und machte sich Richtung Kanzleigasse davon. Ein kalter Wind wehte Schnee in den Flur. Die Gasse lag verlassen und leuchtete weiß. Philipp schloss die Tür und ging mit den Laternen zurück in die Schreibstube. Feierabend! Jäh fiel ihm Nickel ein. Wut und Trotz wallten in ihm empor. Vermaledeit! Kannst mich mal, Hundsfott! Er würde den Teufel tun und sich bei Nickel abmelden. Der war sicher ohnehin schon zu besoffen, um noch an seine Anweisung zu denken. Philipp warf sich seinen Mantel über, löschte die Kerzen und verließ die Stube. Er verschloss das Rundbogenportal des leicht zurückgesetzten Gebäudeteils und ging die Stufen hinab.
Hinter dem Strebepfeiler zu seiner Linken löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel.
Philipp schrak zusammen. Überrascht machte er einen Schritt nach rechts. So spät noch ein Bote?, dachte er unbestimmt, bis ihm deutlich wurde, dass der Umhang des Mannes nicht der eines Boten war.
Der Fremde warf ihm unter seiner Kapuze einen raschen, prüfenden Blick zu und raunte mit rauer Stimme: „Eichhorn, kommt hierhin.“ Er hob den Arm, die Geste wirkte eindringlich. Der Mann kannte seinen Namen? Philipp wunderte sich, folgte ihm. Drei knirschende Schritte bis zum Ersten der beiden rundbogigen Eingänge des östlichen Gebäudeteils der Kanzlei. Drei Schritte, die genügten, dass Philipp Unbehagen spürte, denn er bemerkte, wie der Mann flink die Gasse hinauf und hinunter sah. Philipp unterdrückte aufkommende Beklommenheit und bemühte sich um einen freundlichen Ton, als er sagte: „Die Kanzlei ist längst geschlossen, Herr, das wisst Ihr sicher. Wenn Ihr in Geschäften hier seid, kommt morgen früh wieder. Gegen halb acht Uhr. So es eilig ist, könnt Ihr auch um sieben bereits …“
„Spar dir das!“, unterbrach der Mann ihn harsch, und aus seiner Stimme sprachen Kraft und Autorität. Er reckte den Hals, sah zur Gasse, zurück zu Philipp. Der spürte einen Stich in der Brust. Er war angehalten, höflich zu sein. Plötzlich schlug dieser Grobian den Mantel zurück, und Philipps Blick fiel auf das Schwert an seiner Seite.
Er schluckte. Der Mann stand nah vor ihm, kein Schritt trennte sie, der Eingang war zu eng für zwei gleichzeitig. Was wollte er? Philipp sah ihm ins Gesicht – oder versuchte es jedenfalls. Doch die Gesichtszüge des Mannes blieben unter dessen tief heruntergezogener Kapuze verborgen. Philipps Gedanken stolperten übereinander. Gestalt und Stimme des Mannes ließen vermuten, dass er mittleren Alters war. „Wer seid Ihr, Herr?“ Philipp zwang sich weiterhin zu Freundlichkeit, obwohl ihm der Fremde deutlich zwielichtig erschien. „Ich bin Euch gerne behilflich, soweit es in meiner Macht steht“, sagte er und deutete mit einer Neigung des Kopfes seine Bereitschaft an, auch wenn sein Unbehagen wuchs.
„Es steht in deiner Macht. Es befindet sich etwas im Archivum der Kanzlei, das ich gerne hätte.“
Philipp runzelte die Stirn. „Im Archivum? Da müsst Ihr tagsüber kommen und mit Meister Heberer sprechen.“
„Sieh, genau das geht nicht“, antwortete der andere gepresst. „Du wirst ins Archiv gehen und nach dem suchen, was ich benötige.“
„Ich? Ich darf das Archivum nicht einmal betreten! Nur der Registrator und der Protonotar dürfen das.“
Der Fremde nickte, als sage Philipp ihm damit nichts Neues. Er legte die Hand auf den Schwertknauf. „Du holst das Lehenbuch Friedrichs des Dritten.“ Mit Verachtung rotzte er ihm den Namen des ehemaligen Fürsten hin.
Philipp wusste im selben Augenblick, dass sein Gefühl ihn nicht trog: Hier stimmte etwas ganz und gar nicht, der Mann war unlauter.
„Mein Herr“, sagte er und schluckte die aufkommende Angst hinunter, „dies ist gänzlich unmöglich. Könnt Ihr nicht morgen wiederkommen und Euer Anliegen mit dem Registrator besprechen?“
Blitzschnell packte der Fremde ihn beim Umhang und zog ihn an sich. „Ich sage nicht alles zweimal. Du gehst und bringst mir das Buch“, zischte er.
„Ich darf das nicht!“ Sofort hasste sich Philipp für den weichlichen Tonfall.
Wieder nickte der Mann, als wisse er dies hinlänglich. Er ließ ihn los.
„Euer Gebaren …“, setzte Philipp an, doch mit einer Geste brachte der andere ihn zum Schweigen.
„Du gehst zurück, suchst das Buch. Ich werde zur Stelle sein, wenn du herauskommst. Du übergibst mir das Buch. Dann entscheide ich – hör auf, den Kopf zu schütteln, hör zu! –, ob du noch etwas anderes, sagen wir: entleihen musst.“
„Bei meiner Seele, das werde ich nicht tun!“, fauchte Philipp. „Ihr seid toll, dass Ihr so etwas annehmt!“ So gefiel er sich schon besser. Er war wütend, trotz seiner Beklommenheit, und die Wut war seinem Ton anzuhören. Er würde doch nicht wider die Gebote seines Amtes handeln! Er schickte sich an, den Grobian einfach stehen zu lassen und auf die Gasse zu treten. Der andere versperrte ihm den Weg, indem er seine rechte Hand nah an Philipps linker Schulter gegen die Mauer stützte. Lederhandschuhe. Geruch nach Leder und Rauch.
Philipps Herz schlug schneller. Er fragte sich, ob er rufen sollte – und wenn, ob die Kollegen oben im Zwerchhaus ihn hören würden. Seine rechte Hand glitt zur Hüfte hinab, vermaledeit, das Kurzschwert am Gürtel nützte nichts unter dem Mantel.
„Denk nicht mal dran!“, drohte der andere leise. „Es gibt da nämlich ein gutes Argument für deine Hilfe.“
„Kein Argument der Welt kann mich zu einem Handeln bewegen, das gegen die Vorschriften ist!“
„Ich denke, du irrst.“ Seine Stimme war schneidend. „Braunes Haar, liebliches Wesen. Ein saftiges Weib.“
„Mein Weib?!“
„Nicht so laut, sollen deine Kollegen aufmerksam werden?“
„Was habt Ihr mit Hedwig …?“
„Sie ist, sagen wir, in Gewahrsam.“
„Gewahrsam?“, schrie Philipp. „Ge…“
Der Faustschlag traf sein Kinn. Sein Kopf schlug nach hinten an die Steinwand. Ein harter Schmerz zischte durch sein Hirn, Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen.
„Ich sagte dir bereits, ich sage nicht alles zweimal.“ Er hielt Philipp an der Kehle fest.
Philipp schmeckte Blut im Mund. Das hier konnte doch nicht wahr sein! Er spuckte das Blut aus, als der Mann ihn losließ, sah aus den Augenwinkeln, wie der Fremde an einer Innentasche seines Umhangs nestelte. „Siehst du, ich weiß , dass du nicht tun darfst, worum ich dich ersuche . Deshalb geht es deinem Weib auch nur so lange gut, wie du bereit bist, deine Bedenken zu überwinden und zu tun, was ich verlange.“ Bei den letzten Worten hielt er Philipp einen Ring vor die Nase.
Hedwigs Ehering! Philipp griff hastig danach.
Der Mann zog die Hand zurück. „Nicht so hurtig, junger Freund!“ Er schien zu lachen, es klang wie ein Keuchen.
„Was wollt Ihr? Was habt Ihr vor?“, presste Philipp wütend hervor, obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte. Er hatte Hedwig. Er hatte … Oh Herr, was war mit Juli?
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