Also hatte er den Neckar nach Schlierbach hinter sich gelassen und war gen Süden weitergewandert. Dank der Auskünfte seiner Zechgenossen wusste er in etwa, dass er sich Richtung Südosten halten musste. Kraichgau hieß die Region, in der er sein Glück versuchen wollte. Dort lagen Ritterdörfer und Rittergüter versprenkelt inmitten der pfälzischen Lande. Dort würde er sein Glück machen, dort würde ein Mägdlein seiner harren.
Ryss hob den Kopf, weil das Gehen plötzlich anstrengender wurde und er hörte, wie er keuchte. Er sah die Atemwolken, die er in die grauweiße Luft entließ. Er war einen Hügel hinaufgewandert, umgeben von dichter werdendem Wald. Weiß behangen die kahlen Bäume, hier und da noch ein braunes Blatt, das an einem dürren Ast im Wind schaukelte.
Stille um ihn her. Allein auf Wanderschaft. Wie immer.
So ist mein Los, dachte Ryss. Hab’s mir selber zuzuschreiben. Die Melancholie wollte wiederkommen, und er eilte sich, sie zu verdrängen, indem er sich erneut einen wohligen Abend ausmalte. Er wusste, dass er an Mädchen dachte, um an jene eine nicht denken zu müssen. Und so stapfte er weiter und hoffte, dass er bis Mittag einen Flecken oder Weiler erreichen würde, wo er etwas essen und sich aufwärmen konnte.
„Er ist tot!“
Sofort war Hedwig hellwach.
Trotz des Grauens, trotz der Angst war sie eingeschlafen und nur einmal erwacht, um Juli zu stillen.
Das rasselnde Atmen des Sterbenden, anfangs noch übertönt vom wütenden Zanken der beiden anderen, hatte aufgehört. Sie rührte sich nicht. Sah nicht auf. Kauerte in ihrer Ecke, barg Juli in ihren Armen und verhielt sich ruhig.
„Du jähzorniger Idiot! Und jetzt?!“
„Was willst du hören?“
„Gott, ich hätte mich niemals darauf einlassen sollen.“
Ein Auflachen, es klang wie auf die Gasse gekipptes Schmutzwasser. „Und dann? Immer sich weiter kränken lassen? Auf eine neue Anmaßung harren? Die Zeit ist günstig. All der Trubel in Stadt, Kanzlei und Schloss!“
„Was nützt es uns – nun?“
„Lass mich nachdenken.“
„Dann denke, wie du pisst, Vetter! Zügig!“
„Zunächst müssen wir ihn fortschaffen.“
„Dass wir ihn nicht hier liegen lassen können, weiß ich selbst.“
„Bring ihn nach Wiesenbach. Der Lange wird nicht viel fragen.“
„ Du hast den angeschleppt! Du schaffst ihn auch fort!“
„Ich kenn dich doch, Vetter. Hier sitzen und warten ist deine Sache nicht.“
Ein Scheit Holz wurde aufs Feuer geworfen.
„Ich hab zudem die Lösung.“
Schweigen. Knistern des Feuers. Draußen rief ein Waldvogel.
„Der Knecht.“
„Den anschleppen?“
„Ist nicht gut, wenn noch mehr Bescheid wissen. Der wartet ohnehin auf dich. Wird brav mitkommen, da du ihm in Aussicht stellst, seine Holde zu sehen.“
Meinten sie Philipp? Sie wollten Philipp holen?
„Wir hätten es gleich selber tun sollen.“
„Greine nicht. Schaff den Hundsfott weg und den Knecht bei.“
Geraume Zeit sagte keiner etwas.
Dann: „Sagen wir, ich reite. Dass du sie nicht anrührst! Und lass das Kind zufrieden!“
Sofort pochte ihr Herz schneller vor Angst. Ausgeliefert einem Mörder. Was mochte ihm einfallen, wenn er allein mit ihr war?
Der Wald war dichter geworden. Kein Gehöft hinter der nächsten Biegung, der nächsten Baumgruppe. Er hatte Rast gemacht und die Brezeln verspeist, mit denen er sich in Heidelberg wohlweislich eingedeckt hatte. Seit einer halben Stunde etwa wanderte er wieder. Folgte noch immer einem ausgetretenen Pfad, auch wenn er bisher keiner Menschenseele begegnet war und nur seine eigenen Schritte im Schnee knirschen hörte. Ryss fragte sich, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, noch in Heidelberg zu bleiben. Die jungen Männer gestern Abend hatten von einem Tataren erzählt, der morgen in die Stadt einziehen würde. Von nah und fern käme Volk, um das zu sehen. Er hätte womöglich doch gute Geschäfte gemacht, wenn er sich fernab aller Gesetzeshüter hielte? Ach was, sagte er sich, wo viel Volk, da auch viele Aufpasser. Es war besser gewesen, weiterzuziehen. Auch wenn seine Stiefel inzwischen durchnässt waren und seine Hände trotz seiner wollenen Pulswärmer rot gefroren. Er hatte vorhin überlegt, ein Feuer anzuzünden, es aber gelassen. Er wollte nicht so lange verweilen. Wollte zügig vorankommen. Brüste lockten. Vielleicht eine heiße Suppe.
Ryss blieb abrupt stehen. Das Knirschen seiner Schritte verstummte, die plötzliche Stille rauschte in seinen Ohren.
Rauch? War das Rauch, was er da roch?
Endlich ein Gehöft?
Er spähte durch die schwarzbraunen Stämme. Nach links. Nach rechts. Stapfte weiter. Schmunzelte über sich selbst, weil er merkte, dass er sich über Begegnung freuen würde. Keine Seele seit Stunden, der man zumindest ein „Guten Morgen“ hätte zurufen können. Wo waren die Pfälzer denn alle?
Da sah er Spuren, die links vom Pfad Löcher in den Schnee gestanzt hatten. Er blieb stehen und betrachtete sie. Pferdespuren? Ein Hirsch? Er sah in die Richtung, in die sie führten. Sie verliefen sich im Unterholz. Ob dort eine Ansiedlung lag? Er drehte den Kopf und sah auf den Pfad, den er weitergehen würde. So oder so nur Wald weit und breit. Ob er es hier versuchen sollte?
Und dann, eindeutig: Rauchgeruch. Ganz sicher. Ein warmes Herdfeuer. Die steifen Glieder aufwärmen. Ein Becher heißer Würzwein vielleicht. Seine Füße liefen von selbst, wadentief sank er im Schnee ein.
Nach einigen Minuten blieb er erneut stehen. Ein Kind schrie. Ein sehr kleines Kind, ein Säugling noch.
Also lebte dort wirklich wer.
Munter stapfte er voran.
O’r argol , das Kind schrie sich ja die Seele aus dem Leib! Es wollte sich gar nicht beruhigen. Jetzt zeterte auch noch ein Weib. Und dazu eine Männerstimme, die zornig Befehle spie. Herrje, in einen Zwist mochte er nicht hineingeraten. Das war selten ratsam. Besser man mischte sich nicht in die Belange anderer Leute ein.
Da verstummte das Schreien.
Kurz darauf erspähte er eine Hütte. Aufgetaucht aus dem Nichts. Sie war schwer auszumachen. Eingezwängt zwischen Stämmen und Büschen, windschief und winzig. Ryss blieb stehen. Er äugte hinüber. Männerstimmen drangen heraus. Und das Kind hob wieder zu greinen an. Er verharrte. Das Reisen hatte ihn vorsichtig gemacht. Man war besser auf der Hut. Umkehren? Aber eine warme Suppe … Die Tür schepperte mit dumpfem Knirschen auf, zwei Männer kamen heraus.
Ryss handelte unwillkürlich. In der Sekunde, da er begriff, dass sie einen Toten zwischen sich schleppten, machte er einen Satz hinter den nächsten Baumstamm. Er erfasste noch die Gleichzeitigkeit, mit der alles geschah, bevor er sich für seine Ungeschicktheit verfluchte: Seine Bewegung war zu rasch gewesen, es knackte und knarzte, als er umknickte, das Gleichgewicht verlor, stürzte und heiser aufschrie, weil ihm die Kanten seines Kastens in die Rippen stachen. Schnee rieselte auf ihn herab, die Männer ruckten die Köpfe in seine Richtung. Sie ließen den Toten fallen wie einen Mehlsack und stürmten mit grimmiger Entschlossenheit auf ihn zu.
„Dass dich der Teufel schände, was ist da drin?“
Der mit der roten Nase und der dünnen Stimme kniete neben seinem Rucksack und hielt ihm das bauchige Fläschchen aus grünem Waldglas hin. Der zweite Mann, der gepflegter aussah, stand daneben und ließ ihn nicht aus den Augen.
Ryss lag am Boden, eine Körperlänge von der offenen Feuerstelle entfernt. Er bewegte die Arme, die man ihm auf dem Rücken gebunden hatte, und verzog missfällig das Gesicht. „Getrocknete Mausköpfe“, antwortete er gleichmütig und hoffte, dass man nicht hörte, dass ihm das Herz im Halse schlug. Er verwünschte seine Tölpelhaftigheit. Ließ sich von diesen beiden Kalbsköpfen gefangen nehmen. Mit Genugtuung sah er zu, wie Rotnase das Glas von sich weg hielt und ungläubig darauf starrte, wobei er die schräg stehenden Augen zusammenkniff, dass die Haut der Unterlider schmale Wulste warf. Er sah grobschlächtig aus. Rote strähnige Borsten wie ein Ire, die dazu passende rote Knollennase, fleischige Lippen. Ein roter Kinnbart von gut zwei Zoll Länge und zerfranst wie bei einem Ziegenbock, zu dem das hellbraune Lederwams passte, das er über einem Lederhemd trug. Ein Haudrauf, wenn man ihn fragte.
Читать дальше