Er ging hinaus.
Wittib Ringeler wartete am Apfelbaum. Nachttopf und Eimer hatte sie neben sich abgestellt, aus beiden stank es. Sie schaute ihrem Sohn zu. Der machte noch zwei, drei letzte Schlenker mit dem Besen, richtete sich auf und sagte: „Fertig.“
Philipp wollte ein Danke murmeln und sich vorbeistehlen, da fasste ihn Wittib Ringeler am Arm, neigte den Kopf näher zu ihm und raunte verschwörerisch: „Jägermeister Simmel hat mir eine schöne Lammschulter angeboten … Jaja, geh du schon rein“, richtete sie sich armwedelnd an ihren Sohn, ehe sie sich wieder Philipp zuwandte. „Günstig, wenn Ihr versteht. Da hab ich nicht Nein gesagt.“ Sie lächelte listig. Lutz stapfte davon. „Mit Rüben und Kraut gibt das ein kräftiges Süppchen, was? Freut Euch auf heute Abend!“
Heute Abend?
Mittwoch!
Philipp nahm sich zusammen. Doch noch ehe er „Sicher“ murmeln konnte, zeigte sich die Witwe bestürzt, sie reckte den Kopf näher an sein Gesicht, ihre Hand fuhr zum Mund und sie rief: „Aber was ist denn mit Eurer Wange? Ihr habt Euch doch nicht geprügelt gestern Abend?“
„Nein, nein“, entgegnete er rasch.
Sie hob die kräftigen dunklen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel fast zusammenstießen. „Das sollt Ihr auch nicht!“ Sie nahm wieder Abstand, winkte tadelnd mit dem Zeigefinger und ergänzte: „Auch zu viel Wein ist nicht gut.“
„Ich …“, stammelte Philipp, der nicht wusste, was er sagen, wie er dieser Besorgnis auskommen sollte.
„Schon gut. Ich dringe nicht weiter in Euch. Ihr seid jung.“ Sie lächelte. Philipp wollte sich endlich erleichtert mit einem Gruß verabschieden, als die Augenbrauen sich erneut hoben und Wittib Ringeler, indem ihr Blick zur Treppe huschte, fragte: „Hab die Kleine noch nicht gehört. Ist doch alles in Ordnung? Ihr habt sie wohl doch mitgenommen gestern Abend?“
Das war nicht anders zu erwarten gewesen, er hatte es befürchtet. Was nun? Er sah die Dellen und Grübchen im Kinn seiner Vermieterin. Er kniff die Augen zusammen. Wand sich innerlich. Es half ja nichts. Er würde Beliers die gleiche Lüge erzählen müssen. Wie er es verabscheute!
„Hedwig ist gestern Abend nach Reilingen aufgebrochen. Ihre Mutter ist krank.“
„Herr im Himmel, hilf! Es ist doch nichts Schlimmes? Und Ihr habt das arme Ding allein ziehen lassen?“
Grundgütiger, daran hatte er nicht gedacht. Und jetzt? Er sah Wittib Ringelers Blick und erkannte, dass sie eher vermutete, er und Hedwig hätten einen handfesten Krach hinter sich und das Mädchen wäre in die Arme ihrer Familie geeilt. Aber all das war ja nicht so, weder das eine noch das andere stimmte, und am liebsten hätte er ihr dies ins Gesicht geschrien. Er wollte das hier nicht. Er wagte kaum, sie anzusehen. Er hatte Angst, sie könne ihm im Gesicht ablesen, dass er log. Wie er es hasste, dies tun zu müssen! Wie er hasste, dass es letztlich doch so einfach ging: „Nein, ihr Vater sandte einen Boten, mit dem ging sie mit. Ich hab beide zum Speyerer Tor begleitet“, hörte er sich sagen.
„Ach weh, und Euer kleines Mädchen? Sie hätte sie doch bei mir lassen können, nicht dass sie auch noch krank wird! Die Amme ist ja nicht weit. Ach je, der Herr erbarme sich, dass sie die Reise wohlbehalten übersteht! Na, kräftig ist sie ja.“
Philipp nickte unbestimmt.
„Ich dachte mir gleich, Ihr saht so bekümmert drein. Ich sah sofort, dass Euch etwas drückt.“ Sie tätschelte seinen Arm. „Eine Schüssel warme Grütze, Herr Eichhorn, bevor Ihr in die Kanzlei geht?“
Er zwang sich zu einem Lächeln, lehnte die Grütze dankend ab, er würde sich vorne beim Bäcker an Heiliggeist eine Brezel kaufen.
Ihre Hand lag noch immer auf seinem Arm, ihr Blick war forschend, sie schien nach den rechten Worten zu suchen. Und tatsächlich, nachdrücklich sagte sie: „Das wird schon wieder, sorgt Euch nicht.“ Es war nicht klar, ob sie die kranke Mutter oder den vermeintlichen Ehekrach meinte.
Philipp wollte nur noch weg. Mit einer Geste deutete er an, dass er nun aber aufbrechen müsse.
„Sicher, sicher, geht nur“, nickte sie. „Ihr müsst aufschließen, Feuer anmachen. Ich weiß, ich weiß, nun geht!“ Damit entließ ihn die gute Frau, die letztlich nichts weniger getan hatte, als ihrer nachbarschaftlichen Pflicht nachzukommen, weshalb ihn seine Lügen umso mehr schmerzten.
Er eilte durch die Pforte, die zur Gasse hinausführte – und prallte mit Kilian zusammen.
„Holla Freund, Guten Morgen!“, rief dieser. „Will eben zu dir.“
Vermaledeit, jetzt auch noch Kilian!
Sein Freund wohnte in der Jakober Vorstadt, sein Weg zum Marstall führte ihn schnurstracks an ihrem Haus vorbei.
„Haben auf euch gewartet gestern. Wurdest du so lange gebraucht?“
Weiterlügen. Am liebsten hätte er Kilian in die Stube gebeten, ihm anvertraut, in welch unsagbarer Not er sich befand.
„Auch Hedwig … Aber was ist nur? Ich seh dir an, etwas stimmt nicht. Ist etwas geschehen? Juli ist doch nicht krank?“ Kilians Miene, die zunächst ein wenig ungehalten gewirkt hatte, drückte nun neugierige Anteilnahme aus.
Philipp schüttelte den Kopf. „Nein. Aber Hedwigs Mutter. Hedwig brach gestern Abend nach Reilingen auf.“
„Wie das? Du sagtest doch, sie sei bereits in der Schenke.“
Verflucht! Wie sollte er sich da herauswinden? Gott, steh mir bei, auch wenn es beim Lügen ist.
„Und du ließest sie allein gehen?“, setzte Kilian ungläubig nach.
„Nein, nein.“ Philipp suchte nach einer Erklärung. Und wunderte sich fast nicht mehr, wie leicht sie ihm auch diesmal über die Lippen kam. „Nach meinem Amtsgang eilte ich noch einmal nach Hause, weiß gar nicht mehr warum. Hedwig hat dort auf mich gewartet, zusammen mit dem Boten, den ihr Vater sandte. Der begleitete sie.“
„Und du?“
„Was meinst du?“ War Kilian misstrauisch? Philipp wagte nicht, ihm offen ins Gesicht zu sehen. Wie er sich für seine Lügerei schämte.
„Hättest doch noch ins ‚Schwert‘ kommen können.“
Philipp machte eine unbestimmte Geste. „Ich ging bis zum Rabenstein mit. Auf dem Rückweg blieb ich am Speyerer Tor bei den Wächtern hängen. Denen hatte wer zwei Kannen Roten ausgegeben.“ Er zuckte die Schultern.
„Ah“, machte Kilian.
Nahm er ihm das krumm? Er konnte es nicht einschätzen. Gott, Kilian, wenn du wüsstest …
„Was hat ihre Mutter?“
Wieder zuckte Philipp die Schultern. „Etwas mit Fieber, man weiß es nicht genau.“
Verständnisvoll nickte Kilian. Plötzlich kniff er die Augen zusammen, sein Gesicht kam näher. „Herrje, was ist mit deiner Backe?“
Er würde ständig darauf angesprochen werden, er hatte sich bereits etwas einfallen lassen. „Ich hab mich gestoßen“, winkte er ab.
Kilian setzte ein schiefes Grinsen auf. „Der Rote schmeckte wohl. Und die Straßen sind rutschig.“ Er hieb ihm auf die Schulter. „War jedenfalls lustig, kannst dir ja denken. Conradt spielte den Zink, Ochsenkuhn die Sackpfeife, ein Flötist noch dazu – es ging heiter her. Ha, und zu später Stunde sang so ein schwarzer Vogel welsche Lieder.“
Als Philipp fragend schaute, ergänzte Kilian: „Der war gänzlich schwarz gewandet, wie ein Magister. Rabenschwarzes Haar dazu und Augen wie ein Muselmann, ansonsten bleich wie Milch. Sprach so gut wie nichts. Nach ’ner Kanne aber hob er an zu singen, keiner verstand sein Gekrähe, aber alle johlten mit.“ Kilian grinste.
„Da hab ich ja was verpasst“, sagte Philipp müde.
Kilian wurde ernst. „Hattest ja andere Sorgen. Was ist, willst du in der Mittagspause nicht zum Marstall kommen? Gut dreihundert Pferde sind schon da. Täglich werden es mehr. Sollen bis sechshundert werden für den Umzug nach Amberg.“ Er fasste Philipp am Arm. „Das wird dich ablenken.“
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