„Ich weiß nicht recht.“ Er fürchtete sich vor dem Zusammensein. Er würde weiterlügen müssen. Und andererseits hätte er sich Kilian nur zu gerne anvertraut.
„Denk drüber nach. Ich werde dort sein.“
Sie mussten einem Ochsenkarren Platz machen, der vom Jakober Tor heranrumpelte, drückten sich an die Hauswand. Kilian deutete die Gasse hinunter und sagte: „Lass uns das Stück zusammen gehen.“
Philipp nickte und trottete neben seinem Freund gen Marktplatz.
Später stand er in der Mauernische von Heiliggeist, stopfte den letzten Krümel Brezel in den Mund und schaute hinüber zum Belierschen Haus. Kaum dreißig Schritte bis zum Tor, sie erschienen ihm wie dreitausend.
Er hatte eigentlich keine Zeit mehr, lange zu überlegen. Heiliggeist schlug sechs, er musste in die Kanzlei. Und doch stand er hier und starrte auf die etwa vier Ruten breite Hausfassade, als könnten ihm Erkerbrüstung, Bogenfenster, Ornamente und Reliefs des neuen Gebäudes bei seinem Vorhaben irgendwie behilflich sein. Aber das konnten sie nicht. Er musste selbst entscheiden, ob er zum Hausherrn persönlich ginge oder ob er es dabei bewenden ließe, dem Knecht Bescheid zu geben. In Anbetracht der Zeit und weil es weniger unangenehm war, musste wohl Letzteres genügen. Doch noch waren die vertikal ausschwenkbaren Klappläden, die als Verkaufstische für die Tuche dienten, an den eingemauerten Eisenlaschen verriegelt und nicht heruntergelassen. Auch das Hofportal war noch geschlossen. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als zu pochen. Er schaute noch einmal an der Vorderseite des Hauses empor und erkannte im zweiten Obergeschoss einen blassen Lichtschein. Er gab sich einen Ruck und ging auf das Tor zu. Hob den Arm und klopfte fest.
Sofort wurde geöffnet. Doch nicht Velten, dem Knecht des Hauses, sah er sich gegenüber, sondern Appel, im Wollumhang und mit zwei Eimern in den Händen. Sie war auf dem Weg zum Wasserholen. Sofort dachte er daran, dass Kilian ihm glücklich erzählt hatte, dass Appel gestern Abend tatsächlich gekommen war und bei ihnen gesessen hatte. Sie war wirklich schön, er verstand Kilian. Augenbrauen wie mit einem Pinselstrich hingeschwungen. Augen wie zwei schwarze Kirschen. Runde Lippen und ein Lächeln, das ihr erstarb, als sie ihn erkannte. „Ist etwas mit Hedwig?“, fragte sie sofort. „Oder Juli?“ Atemwölkchen vor ihren Lippen, duftig wie Schmetterlinge.
„Nein, den …“ Er stockte. „Den beiden geht’s gut“, hatte er sagen wollen. Aber jäh wurde ihm bewusst, dass er nicht wusste, wie es ihnen ging. Er wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben waren. Er kämpfte die aufsteigende Angst nieder, die Verzweiflung. Rang mit sich. „Appel“, sagte er, und die Betonung, die er in ihren Namen legte, ließ sie aufmerken und ihn noch aufmerksamer anschauen. „Sag den Beliers, Hedwig musste nach Reilingen. Ihre Mutter ist krank und man schickte nach ihr. Bitte gib den Herrschaften Bescheid. Ich muss zur Kanzlei, bin ohnehin schon spät.“
Appel blickte ihn unverwandt an. „Und Juli?“, fragte sie.
„Ist bei ihr. Willst du es ausrichten, Appel?“
Sie nickte, und der Ernst in ihren Augen, die sonst so vorwitzig blickten, verfolgte ihn den gesamten Weg bis zur kurfürstlichen Kanzlei am Fuße des Schlossbergs.
Der Morgen war trüb und grau, wie es einem Novembermorgen anstand. Auf dem Küchentisch flackerte deshalb ein Öllicht. Hausherr Matthias Großhans schob den länglichen Eisenbehälter am Griff ein wenig zur Seite, damit die eineinhalbjährige Sophia nicht drankam. Seine Nichte konnte keine fünf Minuten stillhalten, zappelte auf dem Schoß ihrer Mutter, seiner Schwester Barbara, herum. Was war er froh, dass seine Kinder aus dem heraus waren! Hedwig war bald siebzehn und bereits unter der Haube, sein Sohn Michel fast elf.
Sein Weib Gundel kam mit einem Krug angewärmten Bieres zum Tisch und füllte die Tonbecher. Matthias schob Magister Baumann den ersten hin. Der Lehrer war zeitig aus Hockenheim nach Reilingen herübergekommen, um die morgige Reise nach Heidelberg mit ihnen zu besprechen. Deshalb war auch seine Schwester Barbara mit ihren beiden Stiefsöhnen Cornelius und David da. Der zwölfjährige David schielte augenblicklich neidisch zu seinem fast fünfzehnjährigen Bruder, weil der einen Becher Bier entgegennahm, während er selbst sich mit Milch begnügen musste.
Das wird was geben, dachte Matthias, mit vier heranwachsenden Jungen morgen nach Heidelberg! Sein eigener Sohn Michel, Cornelius und David sowie deren Vetter Sebastian hatten ihm die Ohren vollgejault, seit vor wenigen Tagen die Kunde umgegangen war, dass es in Heidelberg ein fremdländisches Tier zu bestaunen geben würde. Der Herzog von Württemberg gedachte, dem Kurfürsten von der Pfalz durch die Übersendung eines gefangenen Kamels nebst zugehörigem Tataren seine Achtung auszudrücken. Dass der protestantische Württemberger damit ein politisches Zeichen der Verbundsbereitschaft an seinen reformierten Nachbarfürsten sandte, dürfte Friedrich wohl gefallen, da war sich Matthias sicher. Die calvinistische Pfalz brauchte und suchte Verbündete. Und der Erhöhung der Ehre diente es zudem, wenn der übliche Pomp das Volk zusammenlaufen ließe, da Wein und Wecken umsonst ausgegeben würden. Ganz sicher gab es obendrein Wettschießen oder Ringlerennen. Matthias schnaufte durch. So machte man sich lieb Kind mit seinen Untertanen. Und die Herrscher sich gegenseitig. Nun, man würde hinfahren und es sich anschauen, man hatte es den Jungen versprochen, weil ihr Bitten und Betteln nicht nachließ.
„Seit Julianas Taufe im August haben wir sie nicht mehr gesehen, Magister Baumann“, sagte Gundel gerade zu dem Lehrer. „Wir wollen sie mit unserem Besuch überraschen.“
Natürlich war auch das ein Grund für die Reise. Sie wollten die Tochter besuchen, die in der Residenzstadt lebte. Sein Weib war im Sommer zwei Wochen dort gewesen, um der Tochter bei der Geburt beizustehen und ihr im Haushalt zu helfen. Zur Taufe hatte er ein Fest ausgerichtet, wie es üblich war, und war mit seiner Mutter, seiner Schwester und deren Familie nachgereist.
„Ruhig jetzt, Sophia!“, zwang Barbara ihre Tochter zur Ordnung.
Sophia bog und wand sich, wollte runtergelassen werden.
Lehrer Baumann nickte und fragte: „Mit dem Fuhrwerk geht alles klar?“
„Gib sie mir“, sagte Cornelius und streckte die Arme nach seiner Halbschwester aus. „Komm her, Plaggeist!“ Sophia strahlte und streckte ihrerseits die Ärmchen nach ihm aus. Cornelius nahm sie auf seinen Schoß und hielt ihr den Fuchsschwanz hin, den er am Gürtel festgebunden hatte. Damit hatte er sie eine Weile beschäftigt. Barbara lächelte zu den beiden hinüber und sagte: „Ja, Markward wird euch sein Fuhrwerk leihen.“
Markward war ein Freund von Barbaras Ehemann.
Baumann nickte. „Gut, ich komme mit dem Mietpferd herübergeritten, wir treffen uns am Hohen Stein.“
Matthias sagte: „Wir müssen sehr früh los. Wollen wir um die Mittagszeit in Heidelberg sein, sollten wir gegen acht Uhr aufbrechen. Eher früher. Vier Stunden brauchen wir sicher, erst recht bei diesem Schnee!“ Er wandte sich an seine Schwester. „Ich kann das Fuhrwerk heute Abend bei Markward abholen?“
Barbara nickte zustimmend.
„Dann komme ich mit Gundel und Michel morgen früh zu euch. Etwas nach sieben Uhr. Cornelius, nicht dass du dann erst anfängst, den Rappen aufzuzäumen! Du bist mit David und Sebastian bereit!“
Er blickte zu Baumann. „Am Hohen Stein. Halb acht.“
„Gut“, sagte der Lehrer.
„Und denkt an ein Licht. Euer Heimritt, Magister Baumann, wird im Dunkeln stattfinden. – Cornelius?“
„Ja, Oheim Großhans, ich vergesse die Leuchte nicht.“
Matthias nickte zufrieden. „Dann ist alles geschwätzt. Magister Baumann, ich denke, Ihr werdet mit drei Halbwüchsigen fertig beim Heimritt.“
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