Paul stand sichtlich durcheinander in der Eingangstür. Jeder einzelne Platz war besetzt und die Leute reihten sich an den Fenstern auf, während sie auf freie Plätze warteten.
Drei Viertel der Plätze wurden von Frauen mit roten Hüten eingenommen. Eine von ihnen war Corrina Anderson, die Kyle entdeckte und winkte. Oh. Nein.
Hilflos deutete Paul auf das Gedränge. »Die Red Hat Society hat ihr abendliches Treffen hierher verlegt und die Wartezeit beträgt vierzig Minuten. An einem Dienstag. Vorher gab es nie eine Wartezeit. Niemals.«
Kyles Schuldgefühle, unabsichtlich ein Teil dieses Komplotts zu sein, wurden von seinem nagenden Hungergefühl verdrängt. »Ich kann unmöglich vierzig Minuten mit dem Essen warten. Ich will nicht die Prinzessin raushängen lassen, aber das ist kein Scherz. Zum Mittag musste ich unterwegs einen Müsliriegel mitgehen lassen und das war um elf. Ich bin am Verhungern.«
»Wir könnten was zum Mitnehmen bestellen, aber unter diesen Umständen wäre das Essen erst Gott weiß wann fertig.«
Gottverdammt, Corrina. »Weißt du was, ich hab es nicht eilig. Wir können es an einem anderen Tag versuchen. Uns vielleicht in der Bibliothek oder so treffen.« Und dann würde er seinem Helferlein nicht sagen, wann das Treffen stattfand.
In einer befangenen Geste rieb Paul seinen Hinterkopf. »Es gefällt mir nicht, dich hungrig zu verabschieden. Wir könnten sie im Spirituosenladen dazu bringen, uns eine Pizza warm zu machen.«
Im hinteren Bereich des Spirituosenladens gab es eine Bar, an der man für einen lächerlichen Preis eine aufgewärmte Tiefkühlpizza aus einem selten gereinigten Tischbackofen unter dem Tresen bekam. Kyle verkniff sich eine Grimasse. »Ich werd zu Hause was auftreiben.«
Nachdem Paul mit gerunzelter Stirn in Richtung Küche gestarrt hatte, hob er eine Hand. »Gib mir fünf Minuten.«
Kyle wollte ihn darauf hinweisen, dass er in fünfzehn Minuten zu Hause sein und Müsli in sich hineinschaufeln konnte. Stattdessen nickte er und drückte sich gegen den Hutständer, inzwischen kläglich ausgehungert inmitten des Essens anderer Leute. Er wartete darauf, dass Corrina herüber kam, um sich zu erklären, weil es ihm unter den Nägeln brannte, ihr für ihre lächerlichen Pläne den Kopf abzureißen. Allerdings würdigte sie ihn nicht mal eines zweiten Blicks, zu beschäftigt damit, ihren heißen Rindfleischburger auf Texas Toast zu essen. Was genau das war, was er bestellt hätte. Was er immer bestellte. Er würde jetzt weniger als zehn Minuten davor stehen, genau das zu essen, wenn Corrina nicht hier aufgekreuzt wäre. Und warum zum Teufel sie das getan hatte, würde er nie –
»Hier.«
Kyle blinzelte, als Paul wieder auftauchte und ihm einen Stapel Styroporbehälter vor die Nase hielt. Der Geruch von Fett, Fleisch, Kartoffeln und Brot fuhr ihm direkt in den Magen. »Was… wie?«
»Bin in die Küche gegangen und hab einen Gefallen eingefordert. Zwei Leute werden fünf Minuten länger auf ihr Essen warten müssen, aber dafür können sie sich hinsetzen, also ist alles gut.«
Pauls besitzergreifender, selbstzufriedener Ausdruck ließ Kyle dahinschmelzen. »Aber wo werden wir essen?«
In diesem Augenblick erkannte er Corrinas Plan. Irgendwie hatte sie gewusst, dass es genau so kommen würde. Irgendwie hatte sie gewusst, dass ihre Belagerung des Cafés damit enden würde, dass sie in der Bar am Highway, im Spirituosenladen, dem Geschäft oder Pauls Haus essen würden. Oh, Corrina. Du bist eine Meisterin deines Fachs.
Allerdings konnte Kyle sehen, dass es Paul unangenehm war, ihn mit zu sich nach Hause zu nehmen. Ehrlich gesagt, war Kyle nicht sicher, ob er bereit war, auf den Stufen zu stehen, auf denen er so gründlich zurückgewiesen worden war. Er ignorierte die Stimme in seinem Kopf, die ihn warnte, dass Corrina mit der Zunge schnalzen würde, und kam Paul auf halber Strecke entgegen.
»Wäre es okay, zu deinem Laden zu gehen? Ich nehme an, dass du die Pläne sowieso dort hast.«
Paul strahlte Erleichterung aus. »Ja. Das ist eine gute Idee. Ich meine, noch habe ich keine Pläne. Ich verstehe kaum, was es mit diesem Wonderland überhaupt auf sich hat. Allerdings gibt es im Geschäft keine sehr bequemen Sitzgelegenheiten.«
Kyle verlagerte das Gewicht der Schachteln, damit er eine Hand hochheben konnte. »Ernsthaft, im Moment brauch ich's nicht ausgefallen. Ich könnte das hier mit Freuden ohne Besteck unter der Straßenlampe essen.«
»Ich kann dir auf jeden Fall mehr als das bieten.« Paul grinste und Kyles Herz schlug einen Purzelbaum. »Na los. Ich nehme dich mit und du kannst dein Auto nachher holen.«
Siehst du, Corrina? Ich kann sogar schlauer sein als du. Kyle strahlte. »Danke. Klingt toll.«
Eigentlich war Kyle ein ganz anständiger Kerl.
Das hatte Paul schon seit Jahren gewusst. Bevor Marcus' Mutter gestorben war, war Kyle einer der nettesten Pfleger im Pflegeheim gewesen, der Mimi dabei geholfen hatte, sich an jedes bisschen Würde zu klammern, das sie bekommen konnte, ehe Alzheimer ihr alles genommen hatte. Jeder wusste, dass er im Umgang mit seiner Zwillingsschwester großartig war. Außerdem war er freundlich. Und ja. Er war süß. Paul hatte Augen im Kopf und es war ihm aufgefallen, wie einem so etwas nun mal auffiel.
Aber es war schon das zweite Mal in Folge, dass Paul beobachten konnte, wie Kyle… nun, nicht im Feenland umherstolzierte, um es offen zu sagen. Frankie machte stets selbstironische Bemerkungen über seine feminine Seite, die Marcus meistens verteidigte, aber bei Kyle war es anders.
Zum Abschied benutzte er oft, vor allem im Pflegeheim, diesen Singsang-Tonfall auf eine Art, die besagte: Hier bin ich und benutze zum Abschied diesen Singsang-Tonfall. Er ging nie auf die Straße, ohne wie eine schwule Schaufensterpuppe auszusehen, was in einer winzigen Stadt in den North Woods verdammt merkwürdig war. Selbst seine OP-Kleidung schaffte es irgendwie, verflucht schwul auszusehen, und zwar nicht, weil sie mit Regenbögen übersät war.
Irgendwie war alles an Kyle auf fabelhafte, glitzernde Art schwul.
Um ehrlich zu sein, hatte Paul lange vermutet, dass Kyle das absichtlich machte. Und auch wenn er versuchte, darüber hinwegzusehen, konnte er es nicht.
Heute Abend war all das extrem heruntergefahren, obwohl es immer noch da war. Im Reparaturgeschäft schälte sich Kyle aus seinem dicken, strahlend blauen Parka und dazu passender Strickmütze, Schal und Fäustlingen. Darunter kamen ein eng anliegender, grauer Pullover und ebenso enge Jeans zum Vorschein.
Wenn Paul sich vorstellen wollte, wie Kyles Hintern geformt war, musste er das nicht länger tun. Doch die sonstigen affektierten Gesten blieben aus. Kein Trillern, kein flirtender und doch geschlechtsloser Hüftschwung. Als er den Deckel seiner Styroporschachtel aufklappte, ja, da tat er es mit einem eleganten, grazilen Schwung. Während er aß – auch wenn er in seiner Hektik, Essen in den Magen zu bekommen, beinahe ungeschickt war –, war der feminine Anflug in seinen Bewegungen nicht zu leugnen.
Allerdings schienen diese Gesten natürlich zu sein. Sie passten zu dem Mann vor Paul.
Zum ersten Mal seit praktisch immer sah Paul Kyle an und gab zu, dass vor ihm tatsächlich ein Mann saß. Kein Kind, das Spielchen spielte, mit Paul flirtete und ihm ein komisches Gefühl gab. Gabriel hatte immer und immer wieder darauf hingewiesen, dass Kyle nicht so jung war, wie Arthur und Paul ständig behaupteten – und endlich konnte Paul das sehen.
Kyle, der Pauls Starren bemerkte, errötete und griff mit derselben Anmut nach einer Serviette. »Sorry, hab ich Kartoffelreste im Gesicht? Ich hätte nicht so schnell essen sollen.«
Hatte er nicht, doch Paul konnte nicht zugeben, warum er ihn angestarrt hatte. »Nur ein wenig, aber du hast es schon erwischt.« Er fühlte sich schlecht, weil er gelogen hatte, also berührte er reumütig seinen Bart und Schnurrbart. »Keine Sorge, ich bin sicher, an mir bleibt mehr hängen als an dir, bis ich fertig bin.«
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