»Dann kommt es also gelegentlich zu Begegnungen?«, erkundigte sich Akkamas.
»Nein. Der Vermerk lag mindestens zwei Jahrtausende zurück, und seitdem wurde er von keinem Kommandanten mehr aufgegriffen.«
»Woher wollt Ihr dann wissen, dass es dieses Volk überhaupt noch gibt?«, wandte sich Akkamas an Peredin.
»Wir wissen es nicht«, gab der Erhabene zu. »Aber für Astarions Vorschlag spielt es keine Rolle.«
»Das verstehe ich nicht«, gestand Mahalea. »Worauf wollt Ihr hinaus?«
»Erzählt uns die ganze Geschichte, Vater«, bat Beneleas und schenkte Peredin noch einmal nach, bevor er sich ebenfalls setzte. »Im Rat schlugen die Wogen so hoch, dass ich kaum noch etwas verstand.«
»So weit sie mir überhaupt bekannt ist, will ich das gern tun«, versicherte sein Vater. »Die Wurzeln des Streits reichen bis in den Krieg zurück, der uns am Ende des Vierten Zeitalters die Vorherrschaft über die Welt kostete. Dies wurde auch in dem alten Ratsbeschluss angedeutet, aber leider nicht weiter ausgeführt. Als Astarion heute darauf zu sprechen kam, zitierte ein Gelehrter der Abkömmlinge Ameas aus einer Chronik, in der die Bewohner des Nordens als Verräter an allen Elfenvölkern bezeichnet werden. Aber leider wissen wir nicht, worum es dabei ging. Der Ratsbeschluss selbst bezieht sich auf spätere Frevel, die von den Verrätern begangen wurden. Darüber konnten wir allerdings gar nicht mehr sprechen, weil der Gelehrte betonte, dass es sich bei den Abkömmlingen Chions um Söhne und Töchter Piriths handelt.« Peredin seufzte. »Sofort ist wieder der Streit um Kavaraths Mitwisser ausgebrochen, weil wir sie immer noch nicht anklagen konnten. Einige Ratsmitglieder werfen den Abkömmlingen Piriths jetzt vor, auf eine Tradition des Verrats zurückzublicken und deshalb kein Vertrauen mehr zu verdienen. Ich befürchte, dass nun Gerüchte umgehen, dass sie auch hinter der Zerstörung des Ewigen Lichts stecken. Die Vertreter der Abkömmlinge Piriths haben sich zurecht darüber empört, aber die Frage hat die Gemüter so sehr erhitzt, dass ich die Wogen nicht mehr glätten konnte. Am Ende haben sie aus Protest den Saal verlassen, und ich kann nur hoffen, dass Astarion sie bis morgen umzustimmen vermag. Die Debatte ist auch ohne diese Querelen noch schwierig genug.«
Athanor nickte. Nachdem sein eigenes Volk durch Verrat vernichtet worden war, konnte er das Misstrauen gegenüber den Abkömmlingen Piriths nur zu gut verstehen. Doch ein ganzes Volk für die Intrigen einer einzigen Familie zu verurteilen, war ungerecht und stand dem Frieden im Weg. »Diese Vorwürfe werden den Zusammenhalt der Abkömmlinge Piriths verstärken. Solange sie von außen angegriffen werden, werden sie sich gemeinsam verteidigen.«
»Anfangs hatte ich gehofft, dass die Anschuldigungen einen Keil zwischen die Aufrichtigen und die Verräter treiben würden«, gestand Peredin. »Aber Ihr habt recht. Wir warten seit Monden umsonst darauf, dabei sollten die Aufrichtigen ebenso verunsichert sein wie wir.«
»Allerdings«, stimmte Mahalea ihm zu. »Wie kann man noch Tür an Tür oder gar unter einem Dach leben, wenn man nicht weiß, wer an Kavaraths Komplott beteiligt und für den Tod so vieler Elfen mit verantwortlich war? Ich würde keinen Schlaf mehr finden, bis ich es herausgefunden hätte.«
Beneleas sprang auf. »Dann sollen wir nichts mehr dazu sagen, bis sie geruhen, uns die Verräter von selbst auszuliefern? Sie haben eine Erhabene ermordet! Wer sagt uns, dass meinem Vater nicht dasselbe Schicksal droht?«
»Mäßige dich, Beneleas!«, forderte Peredin. »Kavarath war der skrupellose Intrigant hinter diesen Taten. Die Trolle haben ihn dafür gerichtet. Ivanaras Mörder starb sogar am Ort seines Verbrechens – von der Hand der Kommandantin. Beide haben ihre Verfehlungen also mit dem Leben – und vermutlich auch ihrer Seele – bezahlt. Diese abschreckenden Beispiele dürften genügen, um ihre Mitwisser von weiteren Bluttaten abzuhalten.«
»Das hoffen wir, Erhabener«, sagte Mahalea, »aber ich habe auch Verständnis für Beneleas’ Bedenken.«
»Wir haben jetzt dringlichere Sorgen«, wehrte Peredin ab.
Widerstrebend setzte sich sein Sohn wieder und nahm einen Schluck Wein.
»Ich habe Euch nur von dem Streit erzählt, damit Ihr wisst, was im Rat vorgeht. Von Euch erwarte ich, dass Ihr mir helft, diesen unseligen Disput zu vertagen, bis wir unser Überleben gesichert haben.«
Mahalea nickte. »Diese Frage hat selbstverständlich Vorrang. Aber wie sollen uns nun ausgerechnet diese Abtrünnigen helfen?«
»Während des Vierten Zeitalters lebten Elfen über ganz Ardaia verstreut«, erklärte der Erhabene.
»Selbst jenseits des Ozeans?«, wollte Athanor wissen. Der Sphinx, von dem er zum Kampf gegen den Riesen beim Turm der Vergessenen Götter gezwungen worden war, hatte von einstigen Elfenstädten erzählt, deren Ruinen aus dem Wüstensand ragten.
»Nicht in Dion«, antwortete Akkamas. »Aus meinem Land zogen sie sich bereits am Ende des Dritten Zeitalters zurück, als der Krieg der Astare nur Sand und Asche hinterließ. Zumindest wurde es mir so von meinen Vorfahren überliefert, und ich neige dazu, ihnen zu glauben«, fügte er mit einem Lächeln an Peredin hinzu. »Aber jenseits der Donnerberge mag es anders ausgesehen haben.«
»Ich bin sicher, dass Ihr die Geschichte Eurer Heimat besser kennt als ich«, sagte der Erhabene gelassen. »Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass das Vierte Zeitalter das Zeitalter der Elfen genannt wird, weil wir damals das größte und mächtigste Volk Ardaias waren.«
Akkamas nickte. »Dem wollte ich keineswegs widersprechen.«
»Was hat das jetzt alles mit den Abkömmlingen Chions zu tun?«, fragte Beneleas ungeduldig.
»Ich weiß, worauf Ihr hinauswollt«, vermutete Mahalea. »Wenn Elfen überall auf der Welt gelebt haben, waren sie zu weit von unserem Ewigen Licht entfernt, um im Alter hierher in die Elfenlande zu pilgern.«
»So ist es«, bestätigte Peredin. »Es muss auch für sie ein Ewiges Licht in erreichbarer Nähe gegeben haben. In einigen alten Liedern ist noch die Rede davon, weshalb sich Astarion daran erinnert hat. Ich hätte gern den Hüter unseres Ewigen Lichts dazu befragt, doch wie Ihr mir berichtet habt, wurde er bei dem Angriff des Giganten getötet, und seine Gefährtin ist verschwunden.«
»Soll ich nach ihr suchen lassen?«, bot Mahalea an. »Oder nach einem anderen Alfar?«
»Ich fürchte, dafür fehlt uns die Zeit. Und Eure Leute haben mit der Lage an der Küste und der Sicherung unserer Grenzen mehr als genug zu tun.«
»Und nicht einmal diese Aufgabe vermögen sie zu erfüllen.« Der Satz hing so deutlich unausgesprochen in der Luft, dass Athanor nicht sicher war, ob Peredin ihn vielleicht doch gesagt hatte.
»Dann wollt Ihr also nach dem Ewigen Licht suchen, in dessen Nähe diese Abkömmlinge Chions leben«, schloss Akkamas daraus.
»Mehr noch«, erwiderte der Erhabene. »Ich will mein Volk dort hinführen. Hier haben wir keine Zukunft mehr. Dort vielleicht schon.«
»Aber die Elfenlande sind unsere Heimat!«, protestierte Beneleas. »Wir können sie doch nicht einfach so aufgeben!«
»Glaubst du, mir würde nicht auch das Herz bluten?«, fragte Peredin. »Unsere heiligen Stätten, unsere Häuser und Gärten, alles, was uns nährt und schützt, befindet sich hier. Aber welchen Sinn soll das Leben hier noch haben, wenn deine Generation die letzte sein wird?«
In ohnmächtigem Trotz ballte Beneleas die Fäuste. Gegen die Worte seines Vaters gab es keinen vernünftigen Einwand, nur die Angst vor dem Unbekannten und tiefen Schmerz. Athanor wandte sich ab. Er verstand Beneleas’ Gefühle. Er hatte denselben inneren Kampf bei Nemera gesehen. Und wenn er es in einsamen Momenten zuließ, spürte auch er den Verlust seiner Heimat. Das Verlorensein unter fremden Völkern und Himmeln. Obwohl er sich selbst eine Mitschuld dafür geben musste, hatten ihm die Drachen alles geraubt, was ihm lieb und vertraut gewesen war. Sollte ein Volk nach dem anderen dasselbe Schicksal erleiden? Es sah ganz danach aus. Würden als Nächstes die Trolle ihre angestammten Hügel verlassen? War Orkzahn deshalb hier?
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