Athanor blickte durch eines der hohen Bogenfenster nach draußen. Das Geflecht aus magisch geformten, steinernen Ranken, mit dem die Abkömmlinge Ardas ihre Räume vor Wind und Regen bewahrten, gewährte erstaunlich gute Sicht auf den Garten. Obwohl die Sonne bereits versunken war, reichte das Zwielicht noch aus, um Orkzahn zu entdecken. Der Troll saß hinter einem flachen, aber breiten Erdhaufen, aus dem an einigen Stellen Rauch aufstieg. Offensichtlich war er allein, und für den Moment wollte Athanor nicht einmal wissen, was sein Freund da im Garten trieb. Kopfschüttelnd wandte er sich wieder Beneleas zu, der versuchte, Peredin davon zu überzeugen, dass es Irrsinn war, die Elfenlande zu verlassen.
»Wir wissen doch überhaupt nicht, was uns im Norden erwartet«, warnte der junge Elf.
»Auf jeden Fall ein langer, eisiger Winter«, prophezeite Athanor.
»Nach allem, was ich heute gesehen habe, dürfte uns die Kälte jedoch auch hier ereilen«, hielt Mahalea dagegen.
»Aber hier haben wir unsere Häuser und Vorräte!«, wandte Beneleas zu recht ein.
»Und wir wissen nicht, ob uns die Zwerge gestatten werden, ihre Reiche zu durchqueren«, gab Mahalea zu bedenken. »Nachdem Davaron in die Schatzkammern Firondils einbrechen wollte, sind sie schlechter denn je auf uns zu sprechen.«
»Zwerge kann man leicht besänftigen«, behauptete Akkamas. »Opfert ihnen alles, was Ihr an Gold und Edelsteinen besitzt, und sie werden so damit beschäftigt sein, die Reichtümer unter sich aufzuteilen, dass Ihr unbeachtet weiterziehen könnt.«
Athanor schwankte zwischen Belustigung und dem Drang, seinen Freund Vindur zu verteidigen. »Dasselbe würden die Zwerge über Drachen sagen«, spottete er.
Müde rieb sich Peredin das Gesicht. »Wie soll ich die Bedenken eines ganzen Rats zerstreuen, wenn ich nicht einmal meinen eigenen Sohn überzeugen kann?«
»Dann lasst es bleiben!«, rief Beneleas. »Warum sollten wir eine ungewisse Zukunft in unserer Heimat gegen die sicheren Gefahren dieser Reise eintauschen?«
»Weil sich die Lage immer weiter zuspitzen wird!«, entfuhr es Athanor. »Eure Elfenlande sind kein Bollwerk gegen die Dunkelheit mehr! Wie viele Flutwellen und Giganten brauchst du, um das zu kapieren?«
»Du bist nur ein Mensch!«, fuhr Beneleas auf. »Du hast kein Recht, so mit mir zu sprechen!«
»Aber dein Vater hat es«, blaffte Athanor. »Und allmählich sollte er es tun.«
»Wir sind keine Menschen, die sich von ihrem König herumkommandieren lassen. Wir denken selbst!«
»Dann fang endlich damit an!« Am liebsten hätte Athanor ihn am Kragen gepackt und geschüttelt, bis er Peredins Argumente endlich verstand.
Der Erhabene hob mahnend eine Hand. »König Athanor ist unser Freund und Verbündeter. Ohne ihn würden wir vielleicht schon jetzt in den Trümmern dieses Hauses sitzen, deshalb wünsche ich …« Ein plötzliches Rumpeln unterbrach ihn.
Von einem Lidschlag auf den anderen bebte der Boden unter Athanors Füßen. Instinktiv suchte er Halt an der Saalwand und spürte sie ebenfalls wanken. Über ihm raschelte das Laubdach wie im Sturm. Im gefliesten Boden öffneten sich Risse, doch einen Lidschlag später stand alles wieder still. Ungläubig sah er sich um. Wer gesessen hatte, war aufgesprungen, und Akkamas blickte ihn ebenso verblüfft an wie Peredin und Beneleas.
Einzig Mahalea wirkte gefasst. »Nun bebt die Erde also auch hier.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Athanor und sah alarmiert aus dem Fenster. Aufgeschreckte Elfen flohen aus anderen Türen in den Garten. »Nähert sich etwa ein weiterer Gigant?«
»Ich habe Späher ausgesandt, die uns sicher davor gewarnt hätten, wenn es so wäre«, antwortete die Kommandantin. »Ich weiß nicht, was diese Beben zu bedeuten haben, aber an der Grenze zu den Trollhügeln kamen sie bereits mehrmals vor.«
»Es kann nur ein Vorzeichen weiteren Unheils sein«, befand Akkamas ernst. »Als Gast mag es mir nicht zustehen, mich in Eure Angelegenheiten einzumischen, aber ich muss dem Kaysar zustimmen. Ihr seid hier nicht mehr sicher.«
Beneleas schien zu erschüttert, um etwas zu erwidern, doch Mahalea nickte. »Diese Entscheidung wird keinem von uns leicht fallen. Auch ich bin innerlich zerrissen, aber die Grenzwache hat diesen Kräften nichts entgegenzusetzen. Welchen Sinn hat es, hier bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, wenn wir dabei unsere Seelen verlieren? Sosehr es mich auch schmerzt: Ich werde für den Plan des Erhabenen stimmen.«
* * *
Leones eilte mit Rhayuna über den Hof, um sich auf den nächsten Flug vorzubereiten. »Würdest du mir mit der Rüstung helfen?«
»Willst du dir nicht endlich etwas Praktischeres zulegen?«, erwiderte Die Faust und deutete auf ihren gesteppten Mantel, der fast bis zu den Knien reichte. Durch mehrere Schlitze bot er genügend Bewegungsfreiheit, um zu kämpfen, zu klettern oder einen Greif zu reiten, aber wehrhaft sah die Rohseide nicht gerade aus.
»Nein danke, Rhayuna. Ich weiß, dass dein Volk irgendwelche Zauber in diesen Stoff webt, aber … sobald eine Klinge auf mich zurasen würde, käme ich mir darin nackt vor. Es ist nur Seide!«
Die Faust lachte auf. »Wenn Pfeile meiner Haut so wenig anhaben könnten wie diesem Mantel, würde ich auch nackt in die Schlacht rennen.«
»Eine gute Taktik, um den Gegner zu verwirren«, befand Leones scherzhaft. Insgeheim fand er es jedoch abstoßend, eine nackte Elfenfrau den lüsternen Blicken von Menschen oder gar Orks auszusetzen. Angewidert schüttelte er die Vorstellung ab und konzentrierte sich darauf, was er mitnehmen musste. Das Wichtigste war die Rüstung. Sorgfältig legte er sie mit Rhayunas Hilfe an, gürtete das Schwert darüber und griff nach der Provianttasche. Seine Wasserflasche hätte direkt daneben liegen sollen, doch er konnte sie nirgends sehen. »Haben wir noch Kürbisflaschen? Ich muss meine in den Sümpfen vergessen haben.« Bei ihrem überstürzten Aufbruch war das kein Wunder, aber es ärgerte ihn dennoch. Jede kleine Nachlässigkeit würde Theremon in seinem Urteil bestätigen.
»Ich seh mal nach. Brauchst du sonst noch etwas aus der Rüstkammer?«
»Eine neue Bogensehne. Die hier ist spröde geworden«, schätzte Leones und fuhr noch einmal prüfend mit den Fingern darüber.
Die Faust verschwand mit einem Nicken nach draußen. Manchmal kam es Leones vor, als sei sie die Einzige auf Nehora, die jeden gleich behandelte. In den Übungskämpfen schlug sie auch immer gleich fest zu – egal, wen sie vor sich hatte. Leones ertappte sich bei einem Schmunzeln. Vielleicht hielten ihn doch nicht alle für ein mieses Schwein.
Während er sich Tasche, Umhang und Köcher umhängte, ging er in Gedanken noch einmal die Ausrüstung durch. Wenn er allein in die Wildnis flog, durfte er nichts vergessen. Das Nötigste hatte er bereits in seiner Gürteltasche, und er verwarf den Einfall, ein Seil mitzunehmen. Wenn er in zu tiefen Morast geriet, würde ihn Sturmlöwe herausziehen müssen, und mit einem Strick wusste der Greif nichts anzufangen. War die Chimäre überhaupt bereit, schon wieder zu fliegen? Als Leones zur Küche ging, lag Sturmlöwe mit prallem Wanst in der Sonne und schlief. Das verhieß nichts Gutes, aber sie durften keine weitere Nacht verstreichen lassen. Eins nach dem anderen , mahnte sich Leones. Vielleicht war Sturmlöwe wider Erwarten wach, bis er alle Vorbereitungen getroffen hatte.
In der Festungsküche herrschte trotz der beiden Fenster stets Dämmerlicht, was an der vom Rauch der Jahrtausende geschwärzten Decke lag. Schon beim Eintreten schlug Leones der Geruch nach Ruß entgegen, und auch jetzt qualmte ein kleines Feuer auf der Herdstelle, über der ein Wasserkessel hing. Daneben saß Vedsevia, die nachts mit Keatos auf Streife ritt, und barg ihr Gesicht in den Händen, als hätte sie Kummer. Leones war versucht, wortlos an ihr vorbei in die Speisekammer zu gehen. Er hatte genug eigene Sorgen und musste bald aufbrechen. Doch warum rührte sich die Tochter Ardas nicht, obwohl sie seine Schritte gehört haben musste? »Alles in Ordnung?«
Читать дальше