»Sie haben es weit gebracht.«
Theresa senkte den Kopf, und um ihre Mundwinkel erschienen Sorgenfalten. »Wir hatten es zu noch weit mehr gebracht.«
Ava wartete darauf, dass sie fortfuhr. Als das nicht geschah, tätschelte Jennie Theresas Hand. »Sie müssen sich nicht schämen.«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist, und lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte Ava.
Theresa blickte auf. Zorn blitzte durch die aufsteigenden Tränen. »Meine Familie hat Geld in einen Fonds investiert, der von einem Mann verwaltet wurde, der der Freund eines Freundes meines ältesten Bruders ist. Angeblich war es eine sichere Geldanlage, mit einer Rendite von ungefähr zehn Prozent im Jahr.«
Der Name Ponzi schoss Ava durch den Kopf. Der Mann hatte mit seiner Betrugsmasche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Anleger in den USA um ein beträchtliches Vermögen gebracht.
»In den ersten zwei Jahren trafen die Schecks mit der Ausschüttung jeden Monat pünktlich wie ein Uhrwerk bei uns ein, also haben wir mehr und mehr Geld investiert«, fuhr Theresa fort. »Dann begannen die Probleme, und es ging alles sehr schnell. Eines Tages kam der Scheck zu spät – vielleicht zwei Wochen später –, und die Leute wurden schon nervös. Aber dann kam die Zahlung, zusammen mit einem Schreiben, in dem es hieß, bei der Bank habe es ein kleines technisches Problem gegeben. Doch im darauffolgenden Monat ließ die Zahlung wieder auf sich warten. Mein Bruder ist zum Büro des Anlageberaters gegangen und stand vor verschlossenen Türen. Das war’s dann. Ende. Aus.«
»Wie hieß der Finanzdienstleister?«
»Emerald Lion.«
Ava ging ihr Gedächtnis durch, wurde aber nicht fündig. »Ich erinnere mich nicht, von denen je gelesen oder gehört zu haben.«
»Sie wurden in Sing Tao und den anderen chinesischen Zeitungen erwähnt«, sagte Jennie.
»Und in den vietnamesischen«, fügte Theresa hinzu.
»Wann?«
»Vor etwa sechs Monaten.«
»Und was hatten die Zeitungen zu sagen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wie wurde darüber berichtet? Wurde davor gewarnt?«
»Zwischen den Zeilen. Aber sie waren sehr vorsichtig, weil niemand von ihnen mit Lam Van Dinh gesprochen hatte.«
»Er hat den Fonds verwaltet?«
»Ja.«
»Und was haben die zuständigen Behörden gesagt?«
Theresas Gesicht wurde ausdruckslos.
Ava fragte weiter: »Der Fonds war registriert, oder? Die Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde hat ihn doch sicherlich geprüft?«
»Ich weiß von keiner Aufsichtsbehörde, und ich habe keine Ahnung, ob der Fonds registriert war.«
»Theresa, eine Abteilung der Ontario Securities Commission befasst sich mit Investmentfonds. Um legal in der Provinz operieren zu dürfen, musste Emerald Lion bei ihnen registriert sein.«
»Darüber weiß ich nichts.«
»Nun, dann gibt es auch noch die Polizei. Sie sind doch sicher zur Polizei gegangen?«
»Einer der anderen, die ihr Geld verloren haben, ist zur Polizei gegangen, hat dann aber beschlossen, die Sache nicht weiterzuverfolgen.«
»Und warum nicht?«
Theresas verkniffene Miene verriet ihr Unbehagen. Sie warf Jennie einen flüchtigen Blick zu, Fragezeichen in den Augen.
»Sie hatten Angst«, erklärte Jennie Lee.
»Wovor?«
Jennie wandte sich an Theresa. »Sie können Ava vertrauen, das habe ich Ihnen doch gesagt. Sie hat schon Menschen mit größeren Problemen als Ihrem geholfen, und sie weiß, wie man den Mund hält. Nicht wahr, Ava?«
»Mummy, ich bin nicht sicher –«
»Theresa, erzählen Sie ihr, was passiert ist«, sagte Jennie beharrlich.
»Bargeld.«
Ava blinzelte. »Jetzt bin ich mehr als verwirrt.«
»Sie alle haben diesem Lam Bargeld gegeben«, sagte Jennie.
»Das war die Idee meines Bruders«, ergänzte Theresa. »Er sprach mit einem Freund, der einige vietnamesische Lebensmittelgeschäfte mit veralteten Registrierkassen besitzt, aus denen er Geld genommen hat. Das Problem war, dass er mehr Bargeld hatte, als er ausgeben konnte, ohne Verdacht zu erregen. Ich meine, versuchen Sie mal ein Auto bar zu bezahlen oder ein Haus. Und dann hatte er Angst vor der kanadischen Steuerbehörde und der Polizei. Man kann solches Geld heute nicht mehr einfach bei einer Bank einzahlen, ohne dass sie tausend Fragen stellen. Also ist er mit Lam ins Geschäft gekommen.«
»Und was hat Lam mit dem Geld gemacht?«
»Es hieß, er habe ein Arrangement mit der Bank Linno in Indonesien getroffen. Sie hätten eine Niederlassung in Toronto. Er würde das Geld dort auf das Fondskonto einzahlen. Er sagte, er hätte Hunderte von kleinen Investoren in diesem Fonds und dass er jede Woche Geld von ihnen bekäme und deshalb regelmäßig investieren könne, ohne die ganzen Umstände, die ihm die kanadischen Banken bereiten würden.«
»Wie viele Investoren gab es?«
Theresa zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht genau, aber nicht mehrere Hundert, denn beim ersten Mal musste man mindestens Hunderttausend in bar einzahlen.«
»Alle haben bar eingezahlt?«
»Natürlich. Das war der Sinn und Zweck.«
»Sie meinen, Geldwäsche war der Sinn und Zweck?«
»Wir wollten doch bloß unser Geld ausgeben, ohne dass uns die Behörden auf die Schliche kamen.«
»Sie haben also Bargeld eingezahlt und Schecks von einer angeblich seriösen Investmentgesellschaft erhalten, richtig?«
»Ja.«
»Und diese Schecks wurden bei der Bank in Indonesien gutgeschrieben?«
»Ja.«
»Also gab es keine Nachfragen von Seiten der Bank, und Sie konnten Geld abheben, wie Sie wollten, ohne sich Sorgen machen zumüssen.«
»Ja.«
»Haben Sie diese Einkünfte der kanadischen Steuerbehörde gemeldet?«
»Nein. Lam hat gesagt, das bräuchten wir nicht.« Theresa spielte nervös mit ihrer Serviette.
»Das ist Unsinn. Die Investmentgesellschaft hätte für alle Auszahlungen T5-Bescheinigungen für Einkünfte aus Kapitalvermögen ausstellen müssen.«
»Sie haben uns nichts dergleichen ausgestellt. Sie haben uns nur einen monatlichen Kontoauszug geschickt, aus dem hervorging, wie viel Geld wir in dem Fonds hatten.«
»Haben sie Ihnen gesagt, wie das Geld investiert wurde?«
»Nein.«
»Diese Menschen setzen nicht viel Vertrauen in Behörden oder Banken«, sagte Jennie zu Ava, als säße Theresa nicht direkt neben ihr.
»Sieht ganz so aus, aber ihr Vertrauen in einen Fonds zu setzen, der vermutlich weder reguliert noch registriert war und dessen Hauptvorzug darin lag, dass er von einem vietnamesischen Landsmann verwaltet wurde, scheint sich nicht bewährt zu haben«, erwiderte Ava. Sie sah, wie Theresa errötete. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nicht so hart sein.«
»Schon gut, Sie haben ja vollkommen recht.«
»Theresa, wie lange waren Sie an dem Fonds beteiligt?«
»Über zwei Jahre.«
»Wie viel haben Sie in der Zeit ausbezahlt bekommen?«
»Über zweihunderttausend Dollar.«
»Mein Gott. Wie viel Geld hatten Sie denn investiert?«
»Fast drei Millionen Dollar.«
Ava glaubte sie falsch verstanden zu haben und fragte nach: »Sie meinen, die gesamte Fondseinlage belief sich auf drei Millionen?«
»Nein, sie belief sich auf über dreißig Millionen, soweit wir wissen. Meine Familie hatte drei Millionen investiert.«
»Wie sind Sie –«, begann Ava.
Jennie fiel ihr ins Wort. »Theresa, ich hätte gern noch einen Tee. Sind Sie so nett, mir noch einen zu holen? Und Ava, was ist mit dir? Noch ein Wasser?«
Theresa schien nur allzu froh, sich davonmachen zu können. Als sie außer Hörweite war, sagte Jennie zu Ava: »Ich weiß, was du fragen wolltest, und ich finde nicht, dass du diese Frage stellen solltest. Spielt es wirklich eine Rolle, wie sie an so viel Bargeld gekommen sind? Sie alle arbeiten hart und sie sparen eisern. Belass es dabei. Es ist unangenehm genug für sie.«
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