»Und euer Vater und ich haben es inzwischen für mehr als dreißig Jahre hingekriegt.«
»Ich weiß, dass das nicht einfach war.«
»Nein, das war es nicht und das ist es nicht. Ich weiß, was andere, insbesondere nicht Nicht-Chinesen, über meine Ehe sagen und denken. Sie verstehen unsere Kultur und unsere Tradition nicht, und in ihren Augen bin ich manchmal eine Geliebte und manchmal eine Hure. Ich tue einfach so, als ob ich sie nicht höre und kümmere mich um meine Angelegenheiten und mein Leben in dem Wissen, dass es das Leben ist, für das ich mich entschieden habe – nicht ein Leben, das mir aufgenötigt wurde.«
»In der Hinsicht sind wir uns ähnlich. Keine von uns kann es leiden, gesagt zu bekommen, was sie tun soll.«
»Was dich angeht, betrachtet dein Vater es als Segen, bei mir hingegen als Fluch«, erwiderte Jennie.
Ava schloss die Augen. Sie hatte keine Lust auf eine Diskussion über ihren Vater oder die komplizierten Familienverhältnisse, die er geschaffen hatte – ihre Mutter und ihre Schwester und sie selbst allein in Kanada, ihr Vater und seine erste Frau und vier Söhne in Hongkong und eine dritte Frau mit zwei kleinen Kindern in Australien.
»Diese Theresa Ng – ist das eine Freundin von dir?«, fragte Ava.
Ihre Mutter trank einen Schluck Kaffee und holte eine weitere Zigarette hervor. Ava sah, wie sich ihr Kiefer entspannte. »Mittlerweile schon.«
»Und du sagst, sie hat ein Geldproblem?«
»Ja, und ich habe ihr erzählt, dass du gut darin bist, diese Art von Problem zu lösen, und deshalb hat sie mich gebeten, dich zu fragen, ob du mit ihr sprechen würdest.«
»Onkel und ich nehmen normalerweise keine kanadischen Klienten.«
»Sie ist halb Vietnamesin, halb Chinesin.«
»Aber ihr Problem liegt hier in Kanada?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Nun, hierzulande kann sie andere Optionen verfolgen. Sie könnte sich eine Anwältin nehmen, einen guten Steuerberater oder sogar eine hiesige Inkassofirma beauftragen. Das hier ist ein Land, in dem Gesetze tatsächlich greifen.«
»Sie würde sich da nicht gut aufgehoben fühlen. Und soweit ich das verstanden habe, ist ihr Problem ziemlich kompliziert.«
»Inwiefern?«
»Sie ist sehr ausweichend, was die Details angeht. Wenn ich sie darauf anspreche, schüttelt sie bloß den Kopf und seufzt.«
»Mummy, ehrlich … Ich glaube nicht, dass das ein Job für mich ist.«
Jennie Lee nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, und Ava sah, wie sich ihre Kiefermuskeln wieder spannten. »Die Sache ist die: Ich habe ihr schon gesagt, dass du mit ihr sprechen würdest.«
»Ich wünschte, das hättest du nicht getan.«
»Nun, das habe ich aber, und jetzt ist es nicht mehr rückgängig zu machen.«
»Warum?«
»Sie hat heute eigentlich gar keinen Dienst. Sie kommt den ganzen Weg von Mississauga hierher, nur um sich mit dir zu treffen.«
Ava seufzte. »Ich wünschte, du würdest so etwas nicht tun.«
»Es tut mir leid. Aber du brauchst sie doch nur anzuhören und ihr den richtigen Weg aufzuzeigen.«
Ava legte die Hände aufs Gesicht und rieb sich frustriert die Augen. »Versprich nie wieder irgendwelchen Leuten, dass ich sie treffen würde. Onkel und ich haben unsere eigene Vorgehensweise, und ich übernehme keine freien Aufträge.«
»Heißt das, dass du mich heute früher zum Casino fährst?«
»Ja, ich fahre dich früher zum Casino.«
»Danke. Und wirst du dir die Zeit nehmen, mit Theresa zu sprechen?«
»Ja, ich werde mit der Frau sprechen, aber das ist auch alles. Du hast weiter keine Versprechungen gemacht, hoffe ich.«
»Nein.«
»Gut. Also: Wie groß ist das Problem, das diese Baccara-Dealerin hat?«
»Zwischen drei und dreißig Millionen Dollar.«
»Was?!«
»Wie gesagt, sie hält sich bedeckt, was die Details angeht.«
DER PARKPLATZ DES CASINOSfüllte sich bereits, und spätestens um sechs Uhr würde er über das lange Wochenende übervoll sein.
»Fahr weiter um die Ecke. Ich habe Theresa gesagt, wir würden sie da treffen, wo die Busse alle ankommen.«
Dort war keine Parklücke zu sehen, und die Autos kreisten umher wie die Geier. Ava fädelte sich in den Reigen ein; sie begann sich über die Vagheit ihrer Mutter zu ärgern. »Noch fünf Minuten – dann setze ich dich ab und verschwinde«, sagte sie.
Jennie Lee hielt ihre Aufmerksamkeit auf den Casino-Eingang gerichtet und ignorierte die Bemerkung ihrer Tochter.
»Hast du mich gehört?«
»Da ist sie«, sagte sie dann. »Die kleine Frau in Jeans und der roten Bluse.«
Ava fuhr so nah wie möglich an den Eingang des Casinos heran und hielt. Jennie öffnete die Tür und lief zu Theresa hinüber. Sie sprachen kurz miteinander; Jennie schien ins Casino hineingehen zu wollen, aber Theresa schüttelte den Kopf. Dann kamen die beiden Frauen auf den Wagen zu. Jennie stieg vorn ein, Theresa hinten.
»Theresa sagt, sie kann nicht im Casino mit uns sprechen. Angestellten ist es nicht erlaubt, mit Gästen Umgang zu haben«, erklärte Jennie. »Auf dem Highway 14 gibt es kurz vor der Rama Road einen Tim Hortons Coffee-Shop. Warum fahren wir nicht dort hin?«
Ava versuchte an sich zu halten. Wenn Theresa doch wusste, dass sie im Casino nicht miteinander sprechen konnten, warum bat sie dann darum, sich hier mit ihr zu treffen? Warum nicht direkt bei Tim Hortons? Abgesehen davon wusste ihre Mutter, dass Ava Tim Hortons nicht leiden konnte; mit ihrem Vorschlag zahlte sie Ava heim, dass sie bei der Parkplatzsuche so grantig gewesen war.
»Es tut mir so leid, Ihnen diese Umstände zu bereiten«, sagte Theresa Ng.
Ava schaute im Rückspiegel in Theresas rundes Gesicht: blasse Lippen, kein Make-up; das Haar zu einem strengen Zopf zurückgebunden, so dass ihre nervös und verschüchtert blickenden Augen noch betont wurden. Die Frau lächelte, zeigte wunderschöne weiße Zähne, und ihre rechte Hand zupfte den Saum ihrer roten Seidenbluse zurecht.
»Kein Problem«, sagte Ava.
Tim Hortons war so typisch kanadisch wie Curling und das Tragen von Shorts, kaum dass die Frühlingstemperatur zehn Grad Celsius erreichte. Das Land liebte diese Kette, das wurde einmal mehr deutlich, als Ava sich mit ihrem Audi A6 auf dem Highway 12 dem Lokal näherte. Vor dem Drive-Through-Schalter hatte sich eine Schlange gebildet, die fast bis zur Hauptstraße reichte, und das war keineswegs ungewöhnlich – so sah es vermutlich in diesem Moment bei jedem Tim Hortons in ganz Kanada aus.
Ava fand eine Lücke auf dem vollen Parkplatz. Sie stieg aus und ging schnellen Schrittes zu dem Coffee-Shop hinüber; ihre Mutter und Theresa folgten ihr, ins Gespräch vertieft. Ava hörte, wie Theresa sich bei Jennie dafür entschuldigte, ihr so viel Mühe bereitet zu haben. Die Entschuldigung ist an die Falsche gerichtet , dachte Ava, aber sie schien aufrichtig gemeint, und die Frau machte einen sympathischen Eindruck.
Theresa bestand darauf, für Avas Flasche Wasser und Jennies Tee zu bezahlen. Sie fanden einen Tisch hinten im Lokal und wischten die Donut-Krümel und Kaffeeflecken mit einer Serviette fort.
»Theresa ist halb Vietnamesin, halb Chinesin«, erklärte Jennie noch einmal. »Ihre Mutter stammt ursprünglich aus Shanghai. Sie sind in den siebziger Jahren hierhergekommen, als die Kommunisten auch den Süden übernahmen. Sie und ihre Mutter und ihre drei Schwestern.«
»Meine beiden Brüder sind später nachgekommen«, fügte Theresa hinzu.
»Sie sind alle katholisch – so wie wir«, ergänzte Jennie.
Katholisch und teils aus Shanghai stammend. Kein Wunder, dass meine Mutter helfen will , dachte Ava.
»Wir wohnen alle in Mississauga, in derselben Straße«, fuhr Theresa fort. »Anfangs haben wir alle zusammen in einem Haus gelebt – meine Schwestern, meine Mutter und ich. Wir sind alle arbeiten gegangen, haben das Haus abbezahlt und dann ein weiteres gekauft, in das meine älteste Schwester nach ihrer Heirat mit ihrem Mann gezogen ist. Als wir auch das abbezahlt hatten, haben wir ein weiteres Haus gekauft und so weiter. Heute besitzen wir sechs Häuser in der Straße. Alle wohnen nah beieinander – es ist perfekt.«
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