FRAUEN IM SINN
Verlag Krug & Schadenberg
Literatur deutschsprachiger und internationaler
Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,
historische Romane, Erzählungen)
Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen
rund um das lesbische Leben
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Ian Hamilton
DIE ZWEI SCHWESTERN VON BORNEO
Ein Ava-Lee-Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Adele Marx
K+S DIGITAL
Für meinen Bruder Colin und meine Schwester Karen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
ALS SIE MAY LING WONGallein am Eingangsportal der Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis stehen sah, ahnte Ava Lee sofort, dass etwas nicht stimmte.
Es war der zweite Samstag im Januar, und der Himmel war bewölkt. Es war kalt und feucht, typisch für einen Wintertag in Hongkong. Ava saß in einem Bentley mit Amanda Yee – der Braut und ihrer zukünftigen Schwägerin – und drei Brautjungfern, als sie May Ling entdeckte. Amanda war im Begriff, Avas Halbbruder Michael zu heiraten, und Ava war ihre Trauzeugin. Sie waren von Sha Tin hergefahren, der Stadt in den New Territories, in der Amandas Eltern lebten.
Die fünf Frauen waren seit sechs Uhr früh auf, um von den teuersten Haarstylistinnen und Make-up-Artists Hongkongs frisiert und geschminkt und schließlich angekleidet zu werden. Ava hatte sich dagegen verwahrt, dass ihr schulterlanges schwarzes Haar zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur gestylt und gesprayt wurde. Sie hatte sich geweigert, ihr Gesicht mit Foundation und Puder zukleistern zu lassen. Doch sie hatte keine andere Wahl gehabt, als das glänzende lavendelfarbene Seidengewand anzuziehen, das Amanda für ihre Brautbegleiterinnen ausgewählt hatte. Das enge trägerlose Kleid ging ihr bis über die Knie und gab ihr das Gefühl, in buntes Plastik gehüllt zu sein.
Ava war Mitte dreißig, und dennoch war dies erst die dritte Hochzeit, an der sie teilnahm. Die erste war die Hochzeit ihrer älteren Schwester Marian gewesen, die einen gweilo Beamten namens Bruce geheiratet hatte. Im vergangenen August hatte Mimi, ihre beste Freundin, Avas besten Freund und gelegentlichen Arbeitskollegen Derek Liang in der Toronto City Hall in Anwesenheit von zehn FreundInnen und Familienmitgliedern geheiratet. Mimi war von Derek schwanger, und die Hochzeit war kaum mehr als eine Formalität gewesen. Sie hatten ihr gemeinsames Leben längst begonnen und waren kürzlich in ein Haus in Leaside gezogen, einer von Torontos wohlhabenderen Gegenden. Im Anschluss an die Zeremonie hatte Derek sie alle in ein nahegelegenes chinesisches Restaurant eingeladen. Im Kontrast dazu würde diese Hochzeit in Hongkong nach Prunk und Pracht der Kathedrale bei einem achtgängigen Festmahl im Ballsaal des Grand Hyatt fortgesetzt werden.
Als die Limousine vor der Kathedrale der Unbefleckten Empfängnis vorfuhr, warteten bereits drei Fotografinnen und zwei Kameramänner auf die Braut und ihre Begleitdamen. Zwanzig oder dreißig der mehreren Hundert Hochzeitsgäste drängten sich auf dem Bürgersteig, um schnell noch eine Zigarette zu rauchen. May Ling stand ein wenig abseits. Sie trug ein maßgeschneidertes Chanel-Kostüm in Korallenrot und Blassgrün, dessen Rock bis knapp übers Knie reichte. Sie starrte vor sich hin, ihr Gesicht ausdruckslos, und lehnte mit dem Rücken an der grauen Kirchenmauer.
»Da ist May«, sagte Ava an Amanda gewandt. »Sie wirkt ein wenig besorgt.«
»Was?«, sagte Amanda, die damit beschäftigt war, die meterlange Schleppe ihres elfenbeinfarbenen Hochzeitskleides von Vera Wang zusammenzuraffen.
»Ach nichts.« Ava hätte das Wort ›besorgt‹ nicht über die Lippen kommen sollen. Die Hochzeit mochte nach westlicher Manier in einer römisch-katholischen Kirche stattfinden, aber damit war nicht aller chinesischer Aberglaube außer Kraft gesetzt. Allein schon ein negatives Wort – von einer Tat ganz zu schweigen – mochte die Macht haben, das Brautpaar mit einem Fluch zu belegen. Zu Avas Aufgaben als erste Brautjungfer gehörte es, dafür zu sorgen, dass Amanda unbehelligt in ihrer Glücksblase geborgen war.
Als Ava aus der Limousine stieg, trat May Ling einen Schritt vor und winkte. Sie lächelte, aber ihre Stirn war gerunzelt und ihr Lächeln flüchtig.
Amanda glitt aus dem Wagen, posierte für die Kameras und wurde dann für weitere Fotos von ihren Brautdamen umringt. Der Plan sah vor, dass diese sie zu einem kleinen Raum gleich hinter dem Haupteingang geleiten würden, wo Amanda ein allerletztes Mal ihr Aussehen überprüfen und sich auf den Gang zum Traualtar vorbereiten konnte. Als die Brautgesellschaft sich auf den Weg in die Kirche machte, trat Ava neben Amanda.
»Wir haben noch ungefähr zwanzig Minuten, bevor die Zeremonie beginnt«, sagte Ava. »Ich werde kurz mit May Ling sprechen und mich dann drinnen wieder zu dir gesellen.«
»Wo ist May?«
»Dort drüben«, antwortete Ava, wies hinüber und merkte zu ihrer Erleichterung, dass Amanda ihrer vorherigen Bemerkung keine weitere Beachtung beimaß.
Amanda warf einen Blick in Richtung May. »Ich bin erstaunt, dass sie hier ist.«
»Warum?«
»Sie hat mich vor ein paar Tagen angerufen und gesagt, dass sie es vielleicht nicht schafft.«
»Warum nicht?«
»Das hat sie nicht gesagt. Sie hat nur gemeint, sie müsse sich um einige Probleme in Wuhan kümmern.«
»Nun, sie ist hier, also haben sich die Probleme vermutlich erledigt. Du gehst jetzt besser hinein.«
»Bleib nicht zu lange weg. Ich bin nervöser, als ich gedacht hätte«, sagte Amanda.
»Ich bin gleich wieder bei dir.«
Ava wandte sich ab und ging zu May Ling hinüber. Die beiden Frauen hatten sich im Jahr zuvor kennengelernt, als May und ihr Mann Changxing Ava und Onkel, ihren Partner, engagiert hatten, um einige Millionen Dollar, die das Ehepaar beim Kauf gefälschter Kunstwerke verloren hatte, aufzuspüren und zurückzuholen. Ava und Onkel waren damals auf dem Gebiet der Schuldeneintreibung tätig gewesen. Kurze Zeit später war May Ava in einem Fall, der Avas Familie – insbesondere ihren Halbbruder Michael – betraf, zu Hilfe gekommen, und die beiden Frauen hatten Freundschaft geschlossen.
May trat einen Schritt vor und breitete die Arme aus. Ava glitt hinein, und die beiden Frauen umarmten sich.
»Du siehst absolut fantastisch aus!«, sagte May.
»Ich habe den gestrigen Abend und den heutigen Morgen mit Amanda und ihren Freundinnen verbracht, die alle in den Zwanzigern sind. Seitdem fühle ich mich alt und keineswegs fantastisch.«
»Du bist auch erst Anfang dreißig. Ich bin Mitte vierzig – stell dir vor, wie ich mich fühle!«
»May, die Männer lieben dich«, erwiderte Ava.
»Changxing jedenfalls.«
Ava trat einen Schritt zurück. May war so groß wie sie – eins sechzig – und wog vielleicht fünf Pfund weniger. Sie war sehr schlank, feingliedrig und hatte, genau wie Ava, üppige Brüste, die zu zeigen sie sich nicht scheute. Ihr Haar war glatt und zu einem modischen Bob geschnitten. Ihre zarte Erscheinung mochte Verletzlichkeit suggerieren, aber sie besaß einen scharfen Verstand und nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es drauf ankam. Sie konnte jedoch auch höchst charmant und dezent verführerisch sein. Onkel behauptete, Männer wären hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie zu beschützen, und dem Wunsch, sie zu beeindrucken.
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