Das Ende der Teezeremonie war das Zeichen für Amanda, nun ihr rotes Gewand anzulegen. Als Ava und sie gemeinsam den Ballsaal verließen, um in die Suite zurückzukehren, spürte Ava die Blicke der Tanten auf sich. Sie kannte kaum jemand von den Gästen. Hongkong war nicht ihr Zuhause, und weder ihre Mutter noch Onkel verkehrten in den Kreisen, die den Ballsaal bevölkerten. Die einzigen Menschen, die Ava, abgesehen von der Hochzeitsgesellschaft, kannte, waren Simon To, Michaels Geschäftspartner, seine Frau Jessie sowie May Ling und Changxing Wong. Plötzlich fiel Ava auf, dass sie May Ling seit ihrer Begegnung vor der Hochzeitszeremonie noch nicht wieder gesehen hatte.
»Hast du May Ling irgendwo gesehen?«, fragte sie Amanda.
»Nein«, antwortete Amanda abwesend, während sie ihr Make-up auffrischte.
Als sie zum Großen Ballsaal zurückkehrten, war der Geräuschpegel gestiegen und der Raum vollständig gefüllt.
Sie suchten sich ihren Weg zur Brauttafel und ließen sich zu einem Festmahl nieder, dessen Zusammenstellung stundenlange Debatten erfordert hatte. Es würde Marcus Lee an die siebenhundert US-Dollar pro Person kosten – also insgesamt etliche hunderttausend Dollar. Und zwar allein für das Essen. Ava hatte keine Ahnung, welche Kosten noch für die französischen Rot- und Weißweine hinzukommen würden, die ihnen kredenzt wurden, oder für die Bar, an der nur die exklusivsten Spirituosen ausgeschenkt wurden. Die Hochzeitsgäste erwarteten allerdings auch nichts Geringeres. Sie gehörten zu Hongkongs Elite, und es verstand sich, dass Marcus Lee es nicht riskieren würde, anlässlich der Hochzeit seines ältesten Sohnes sein Gesicht zu verlieren.
Im Gegensatz zu den meisten westlichen Hochzeitsgepflogenheiten waren es in diesem Fall die Eltern des Bräutigams, die die Kosten für die Hochzeit trugen. Ava wusste von Amanda, dass Jack Yee, ebenfalls sehr wohlhabend, Marcus angeboten hatte, die Hälfte der Kosten zu übernehmen. Sie hatte keine Ahnung, zu welcher Einigung die beiden Männer gelangt waren. Das Schild an der Tür des Ballsaals hieß die Gäste im Namen beider Familien, der Lees und der Yees, willkommen, und die Platzkarten auf den Tischen kündeten ebenfalls von der Verbindung beider Familien. Ava vermutete, dass Jack die Mitgift seiner Tochter erhöht und einige der vorhochzeitlichen Veranstaltungen bezahlt hatte, während Marcus für alles andere aufkam.
Die Männer trugen allesamt Designer-Anzüge, die nicht unter zweitausend Dollar gekostet hatten. Manche waren maßgefertigt von Jay Kos in New York oder H. Huntsman in London, und die Krawatten waren nicht weniger exklusiv – allein an einem Tisch sah Ava Krawatten von Gucci, Fendi, Hermès und Armani.
Doch wie gut die Männer auch gekleidet sein mochten, es waren die Frauen in ihrer Begleitung, die sich maximal herausgeputzt hatten. Sie trugen ein vielfältiges Spektrum an luxuriösen Roben und Platingeschmeiden mit Diamanten, Smaragden, Rubinen und Jadesteinen von leuchtendem Grün bis Weiß und allen Farbnuancen dazwischen. Niemand war bescheiden gekleidet. Sie alle besaßen Geld – oder vielmehr ihre Gatten –, und sie hatten keine Scheu, das zu zeigen. Es waren alles erste Ehefrauen, zumeist in fortgeschrittenem Alter, wie es den Eltern Yee und Lee entsprach, aber anders als Elizabeth Lee machte keine der Frauen Zugeständnisse an ihr Alter.
Auf dem Weg zum Bankett waren Ava und Amanda an Jamie und David Lee, Michaels jüngeren Brüdern, vorbeigekommen, die an zwei Tischen mit Fotos von dem Brautpaar standen. Auf jedem Tisch befand sich ein von einem weißen Seidentuch bedecktes Kistchen, in das die eintretenden Gäste einen roten Umschlag gleiten ließen. Amanda schätzte, dass das Paar vielleicht an die fünf Millionen Hongkong Dollar geschenkt bekam – es würde auf jeden Fall genug sein für einen finanziell soliden Start ihres Ehelebens.
Ava und Amanda nahmen ihre Plätze an dem Tisch in der Mitte ein, der sich direkt am Rande der Tanzfläche befand. Die übrigen Tische erstreckten sich rechts und links davon. Der nächste Tisch zu ihrer Linken wurde von der Familie Yee eingenommen, der zu ihrer Rechten von den Lees: Marcus, Elizabeth und deren Schwestern mit ihren Gatten sowie deren Bruder mit seiner Frau. Die Schwestern hatten ihre Augen auf das Kopfende des Tisches gerichtet – auf Ava. Sie versuchte sie zu ignorieren, doch ihr Unbehagen wuchs. Ava suchte den Saal nach freundlicheren Gesichtern ab, aber ihre Aufmerksamkeit glitt immer wieder zu den Lees und den herüberstarrenden Tanten zurück. Sie möchten mich tot sehen , dachte Ava.
Ava senkte den Kopf und versuchte, sie aus ihren Gedanken auszusperren. Als sie wieder aufblickte, sah sie, dass Elizabeth mit ihnen sprach und auf das Kopfende des Brauttisches wies. Dann stand Elizabeth auf und betrat die Tanzfläche. Sie bewegte sich mit der gleichen gemessenen Anmut wie bei der Teezeremonie, und wieder war Ava beeindruckt von ihrer Eleganz. In der Mitte der Tanzfläche blieb Elizabeth stehen und blickte in die Runde, dann drehte sie sich um und ging direkt auf Ava zu.
Im Saal kehrte Stille ein. Ava meinte ihren Herzschlag zu vernehmen.
Etwa zehn Meter vor ihrem Tisch blieb Elizabeth stehen und sagte dann mit erhobener Stimme: »Ava, würdest du bitte herkommen.«
Ava spürte, wie Amanda sich versteifte, und hörte Michael sagen: »Mutter …«
Sie schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Marcus sich gleichfalls anschickte aufzustehen. Sie blickte ihn an und schüttelte den Kopf.
Es waren etliche Schritte vom Kopfende des Tisches bis zur Tanzfläche. Ava legte sie langsam zurück und versuchte, gelassen zu wirken, auch wenn sie nichts als äußerste Peinlichkeit verspürte. Als sie die Tanzfläche betrat und sich Elizabeth Lee näherte, erhob sich Gemurmel und Gewisper.
»Ava«, sagte die ältere Frau, hob ihre Arme auf Taillenhöhe, die Hände geöffnet, die Handflächen nach oben gewandt. Ava erstarrte. Elizabeth trat auf sie zu und ergriff ihre Hände. »Ich möchte mich für das Benehmen meiner Schwestern entschuldigen«, sagte sie.
Ava errötete und brachte kein Wort heraus.
»Keine von ihnen versteht, was du für die gesamte Familie Lee getan hast.« Die ältere Frau wich ein Stück zurück und neigte den Kopf zur Seite. »Michael hat mir erzählt, dass du hübsch bist, und ausnahmsweise hat er untertrieben. Du bist eine atemberaubend schöne junge Frau – für meinen Geschmack vielleicht ein bisschen zu sehr wie dein Vater, aber das können wir nicht ändern«, sagte sie und lächelte.
»Sie sind sehr liebenswürdig.«
»Nun, Ava, wir werden keine Freundinnen werden – dafür bin ich zu altmodisch. Aber ich freue mich, dass du mit Amanda und Michael befreundet bist, und vielleicht erstreckt sich das auch auf den einen oder anderen meiner übrigen Söhne.«
»Danke.«
»Und wenn du das nächste Mal mit deiner Mutter sprichst, richte ihr bitte aus, ich finde, dass sie eine absolut wunderbare Tochter hat, und ich gratuliere ihr, dass sie das so gut hinbekommen hat.«
»Das werde ich ihr ausrichten.«
Elizabeth beugte sich vor und flüsterte Ava ins Ohr: »Warum umarmst du mich nicht, solange die Aufmerksamkeit aller auf uns gerichtet ist?«
Ava beugte sich vor. Sie nahmen einander in die Arme; keine von beiden griff fest zu – die Geste allein zählte.
DAS DINNER WAR GERADEZU PERFEKT.Acht Gänge wurden serviert – eine Zahl, die sowohl als traditionell wie als glückbringend galt. Marcus Lee hatte darauf bestanden, dass jedes einzelne Gericht etwas ganz Besonderes war. Als die Kosten in die Höhe schossen, waren Amanda und Michael erschrocken gewesen, aber Marcus war nicht zu bremsen gewesen. »Mein ältester Sohn heiratet Jack Yees einzige Tochter. Das muss gebührend begangen werden«, hatte er erwidert.
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