1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 »Wei.«
»Tut mir leid wegen des Frühstücks. Ich bin gerade erst aufgewacht. Ich war bis nach vier bei Onkel im Krankenhaus. Er hatte einen weiteren Anfall.«
»Geht es ihm jetzt wieder gut?«
»Ja, soweit man das in Anbetracht der Umstände sagen kann. Es heißt, er würde heute entlassen.«
»Und geht es dir gut?«
»Ich denke schon.«
»Musst du ihn abholen?«
»Nein, das ist Sonnys Job, und da funkt ihm niemand dazwischen.«
»Dann kannst du dich also mit mir treffen?«
»Sobald ich geduscht habe.«
»Lass dir Zeit. Ich bin noch in meinem Zimmer.«
Ava ließ sich wirklich Zeit. Sie machte sich einen Instantkaffee und trank ihn, während sie die South China Morning Post überflog. Die Hochzeit wurde nicht erwähnt. Der Rechtsanwalt, mit dem sie getanzt hatte, hatte sie auf einige Pressefotografen aufmerksam gemacht. Sie hatte geglaubt, sie kämen von einigen der vielen chinesischen Tageszeitungen in Hongkong.
Sie duschte, entfernte die letzten Spuren ihres Make-ups vom Abend zuvor, putzte sich die Zähne und frottierte ihr Haar. Sie streifte sich ein schwarzes Giordano-T-Shirt über und ihre Adidas-Trainingshose, und plötzlich kam sie sich verloren vor. Michael und Amanda würden hoch in der Luft sein, auf dem Weg zu ihrem einwöchigen Honeymoon auf den Seychellen. Sonny würde zum Krankenhaus fahren, um Onkel abzuholen, und dann würden sie sich auf den Weg nach Schanghai machen. Beide Bezugspersonen ihres Lebens in Hongkong waren fort. Sie rief May Ling an.
»Ich bin so weit.«
»Gut. Ich bin oben in der M Bar und trinke einen Martini.«
»Einen Martini?«
»Ich erkläre es dir gleich.«
Ava fuhr mit dem Fahrstuhl in die fünfundzwanzigste Etage. Sie hatte nicht gewusst, dass die M Bar so früh geöffnet war, aber da saß May Ling allein an einem Tisch mit Blick über den Victoria Harbour. Sie trug schmale schwarze Jeans und einen petrolfarbenen Rollkragenpullover. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, und als Ava näher kam, sah sie kleine Falten in Mays Mundwinkeln und Ringe unter ihren Augen. Noch überraschender war ihre besorgte Miene. Avas Erfahrung nach war May Ling eine Frau, die alles spielend bewältigte.
»Tut mir leid, dass ich unser Frühstück verpasst habe«, sagte Ava.
Die beiden Frauen umarmten sich. Ava spürte die Anspannung im Körper ihrer Freundin.
»May, was um alles in der Welt ist los?«
May zuckte die Achseln. »Ist das so offensichtlich?«
»Es ist Mittag, und du trinkst einen Martini.«
»Nun, wir haben ein Problem.«
»Und zwar?«
»Ein geschäftliches Problem.«
Ava setzte sich an den Tisch. Augenblicklich erschien ein Kellner, und sie bestellte sich einen Kaffee.
»Ich dachte, wir reden erst und gehen dann hinüber ins Man Wah und essen Dim Sum«, sagte May und wies auf das Restaurant, das die andere Hälfte des fünfundzwanzigsten Stockwerks einnahm.
»Ja, das klingt gut. Aber ich mache mir Sorgen wegen dieses geschäftlichen Problems. Amanda hat auch schon Andeutungen gemacht, aber sie war der Meinung, es handele sich um eine Sache in Wuhan.«
May fischte eine grüne Olive aus ihrem Martini. »Mit Wuhan hat das nichts zu tun. Es handelt sich um ein Problem mit dem neuen Unternehmen – unserem Unternehmen. Ich habe versucht, es allein zu lösen. Ich meine, Amanda musste sich um ihre Hochzeit kümmern und du dich um Onkel, also dachte ich, ich würde euch beide nicht damit behelligen.«
May Lings Augen ähnelten Onkels. Sie waren von einem so dunklen Braun, dass sie in manchem Licht schwarz aussahen, und wie Onkels Augen hatten sie ihre eigene Sprache. Ava hatte sie erst ein einziges Mal besorgt gesehen, und zwar in jener Nacht in Wuhan, als sie und May sich kennengelernt hatten – als May Ling auf Avas Bett saß und sie anflehte, ihren Fall zu übernehmen. »Erzähl mir, was los ist.«
»Ava, bist du sicher, dass du zu diesem Gespräch imstande bist? Ich weiß ja, dass die letzten Tage dich sehr gefordert haben«, erwiderte May.
Ava zuckte die Schultern. »In den letzten vier Monaten habe ich mir Sorgen um Onkel gemacht und mit Amanda um ihre Hochzeit. Gestern hätte, was die beiden angeht, der schlimmste Tag seit meiner Ankunft werden können, aber wir haben die Hochzeit überstanden und Onkel hat eine weitere Krise überlebt. Und nichts davon – ich spreche von den letzten vier Monaten – hat sich als so quälend erwiesen, wie ich befürchtet hatte. Ich musste meinen Kummer, was Onkel anging, in Schach halten, und ich musste über die Trivialität der Hochzeitsvorbereitungen hinwegsehen. Und beides ist mir einigermaßen gelungen. Also, erzähl, was ist unser Problem?«
»Offiziell ist es noch nicht unser Problem«, erwiderte May und biss in die Olive, den Blick auf den Hafen unter ihnen gerichtet. »Noch hast du dein Geld nicht in das Unternehmen gesteckt, und wenn du hörst, worum es geht, tust du es vielleicht auch nicht mehr.«
»Ach, nun mach mal halblang«, antwortete Ava. »So schlimm kann es doch gar nicht sein.«
»Da bin ich mir nicht so sicher, und Changxing ist definitiv der Meinung, dass es so schlimm ist.«
»Was hat er damit zu tun?«
May richtete den Blick auf Ava. »Nichts. Jedenfalls nicht direkt. Aber er weiß um das Problem. Ich konnte meine Bestürzung nicht verhehlen, als ich es erfuhr, und als er mich gefragt hat, was los ist, habe ich es ihm erzählt. Ich glaube, meine Besorgnis freut ihn insgeheim. Es bestärkt ihn in seiner Ansicht, dass ich ohne ihn nichts tun kann – oder, besser gesagt, nichts tun sollte.«
»Das verstehe ich nicht.«
May trank ihren Martini aus. »All mein Geld war in unsere gemeinsamen geschäftlichen Unternehmen investiert. Als ich mit dieser Idee für unseren Plan zu ihm kam, war er … Nun, er war irgendwie verständnisvoll und nachsichtig, aber vor allem war er perplex. Er konnte nicht verstehen, warum ich etwas allein mit dir und Amanda machen wollte. Aber ich muss ihm zugutehalten, dass er mir keine Steine in den Weg gelegt hat, als ich hundert Millionen Dollar aus unseren gemeinsamen Unternehmen abziehen wollte, um die neue Firma zu finanzieren, und er berechnet mir keine allzu hohen Zinsen für die fünfzig Millionen, die ich zurückzahlen werde, wenn dein Anteil einfließt. Doch ich glaube, dass er im Grunde seines Herzens möchte, dass ich – dass wir scheitern, damit die Dinge wieder so werden, wie sie immer waren.«
»Und was versuchst du mir zu sagen? Dass wir gescheitert sind?«
»Nein.« Sie schwieg kurz. Dann fuhr sie fort: »Unser neues Unternehmen hat sehr kurz hintereinander Geld in drei Geschäfte investiert. Als Erstes haben wir, wie du ja weißt, Jack Yees Handelsgesellschaft gekauft, weil das der einzige Weg war, Amanda mit ins Boot zu holen. Aber das ist ein etabliertes Unternehmen, das fast von alleine läuft. Wir haben in ein Vertriebsunternehmen in Schanghai investiert, das ich schon eine Zeit lang im Auge hatte. Ich kenne das Ehepaar, dem es gehört, schon seit Jahren, und im Grunde ist die Frau der Kopf des Unternehmens. Der Mann ist vor etwa sechs Monaten gestorben, und jetzt hat die Frau freie Hand zu expandieren. Sie ist mit einem Vorschlag auf mich zugekommen; ich habe ihn an Amanda weitergeleitet, und sie hat gesagt, es sei eine solide Investition. Wir haben der Frau das Kapital gegeben, das sie brauchte, um die Lagerfläche zu erweitern und den Fuhrpark zu modernisieren und zu vergrößern. Es sieht jetzt schon so aus, als würde die Rendite sehr gut sein.
Das Investment, das sich als problematisch erweist, ist das Einzige, in das wir vorab keinen detaillierten Einblick hatten. Es ist ein Familienunternehmen, das hochwertige Möbel aus Palisander, Teak, Rubberwood und Bambus herstellt. Als wir es geprüft haben, gab es vier gleichberechtigte Partner: die beiden Söhne und die beiden Töchter der Gründerfamilie. Die Eltern sind vor einigen Jahren verstorben.« May hielt inne, als der Kellner kam und Ava ihren Kaffee servierte.
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