Ava bemühte sich, ihn zu verstehen. Sie hob den Kopf, um auf seine Lippen schauen zu können.
»Das Schlimmste war, als wir von China losgeschwommen sind.«
»Du hast mir nie Einzelheiten erzählt.«
»Ich dachte, das hätte ich«, entgegnete er; dann schwieg er erneut, um seine Gedanken zu sammeln. »Wir waren am Verhungern in Wuhan – diese verdammte Kulturrevolution –, aber ich war jung, und zusammen mit einigen anderen jungen Männern beschloss ich zu versuchen, nach Hongkong zu gelangen. Wir schafften es bis zur Küste, sammelten all unsere Kräfte und stiegen ins Wasser.
Wir waren zwölf, als wir starteten. Wir hatten ein Floß gebaut, das Platz für drei bot. Wir wechselten uns also ab auf dem Floß, die anderen schwammen nebenher oder hängten sich dran und schoben es vorwärts. Wir schwammen die ganze Nacht. Das Wasser war so finster und so kalt. Ich habe nie zuvor solche Angst gehabt … Nach ungefähr der Hälfte der Strecke, nach vier Stunden oder so, haben wir gemerkt, dass einer von uns fehlte. Das war der Punkt, an dem ich begriff, wie gefährlich das war und wie dumm wir waren. Aber zum Umkehren war es da schon zu spät, und innehalten konnten wir auch nicht, also schwammen wir weiter. Wir haben noch drei verloren, ehe wir Hongkong erreichten. Die letzte Stunde oder so war ich überzeugt, es nicht zu schaffen. Ich war von tiefster Verzweiflung erfüllt. Ich war so jung und hatte noch nichts im Leben erreicht. Ich hatte keine Familie. Ich dachte immer bloß, wenn ich sterbe, wird es niemand bemerken. Das war es, was mir am meisten Angst gemacht hat – dass die See mich verschlingen würde und es keine Menschenseele auf der Welt gäbe, die das bedauern würde. Nichts, was ich seitdem je unternommen habe, hat mir eine solche Angst eingejagt.«
Ava spürte, wie ihr die Tränen übers Gesicht rannen.
Onkel wandte sich ab. »Ich ertrage es nicht, dich weinen zu sehen.«
»Tut mir leid.«
Er schwieg, und Ava fragte sich, ob er wieder eingeschlafen war. Dann sagte er: »Was die Beisetzung angeht …«
»Jetzt ist nicht die Zeit, das noch einmal durchzusprechen. Das tun wir, wenn du wieder zu Hause bist. Ich weiß, dass du es schlicht halten möchtest. Keine öffentliche Bekanntmachung. Keine aufwendige Zeremonie. Nur eine kurze Aufbahrung im Bestattungsunternehmen.«
»Mir geht es um etwas anderes.«
»Und worum?«
»Ich möchte, dass du einige Mönche für meine Grabstätte in Fanling besorgst. Sie müssen nicht zum Bestattungsunternehmen kommen, aber sie sollen an meinem Grab sein. Fünf sollen es sein. Onkel Fong kann dir helfen, die richtige Person dafür anzusprechen.«
Sie musste wohl überrascht ausgesehen haben, denn er fügte hinzu: »Ich werde jetzt nicht religiös. Ich möchte taoistische Mönche, weil das die Art meiner Eltern war, und ich habe das Bedürfnis, die Tradition zu wahren. Vielleicht bringt mich das meinen Ahnen näher.«
»Onkel, ich bin sicher, dass du das Onkel Fong selbst sagen kannst, wenn du ihn morgen siehst.«
Er schloss die Augen, und sie fragte sich, ob die Anstrengung des Sprechens ihn erschöpft hatte. Doch dann fuhr er fort: »Ich habe vor einigen Tagen mit ihm über dich gesprochen. Er hat noch viele alte Kontakte, und ich habe ihm gesagt, dass er dich, falls du jemals Hilfe brauchst, genauso unterstützen soll, wie er mich immer unterstützt hat.«
»Ich werde unsere alten Geschäfte nicht fortführen. Ich werde diese Kontakte nicht brauchen.«
Er öffnete die Augen. »May Ling Wong hat guanxi , das weiß ich, aber es wird Zeiten geben, in denen du eine andere Art von Hilfe brauchst. Sonny und Onkel Fong können dir verschaffen, was immer du benötigst.«
»Ja, Onkel.«
»Gut. Ich möchte mir keine Sorgen um dich machen müssen.«
»Du musst dir keine Sorgen machen.«
Wieder schloss er die Augen. »Mein wunderschönes Mädchen … Nun, wo ist Sonny?«
»Er wartet draußen.«
»Ich muss kurz mit ihm sprechen.«
»Ich hole ihn.«
Sonny war aufgestanden und ging im Flur auf und ab. »Onkel möchte dich sehen«, sagte Ava.
Er kam zu ihr. »Er kann sprechen?«
»Ja. Doktor Parker sagt, dass er morgen wahrscheinlich nach Hause kann, aber wir müssen ihn von solchem Essen und Trinken wie heute Abend fernhalten.«
Sonny nickte und schob sich dann an ihr vorbei ins Zimmer. Ava setzte sich auf den Stuhl, ließ den Kopf nach hinten gegen die Wand sinken und streckte die Beine aus. Es kam ihr alles so unwirklich vor. Ja, sie wusste, dass er krank war. Sie hatte Dr. Parker genau zugehört und wusste, dass jedes seiner Worte der Wahrheit entsprach. Und doch war Onkel wach und lebendig und sorgte sich um sie, wie immer. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass das einmal nicht mehr so sein würde.
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei. Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war es zehn nach drei, und Sonny stand vor ihr.
»Er möchte dich wieder sehen.«
Onkels Gesicht war der Tür zugewandt, als sie eintrat. Er versuchte zu lächeln. »Ich habe Sonny gerade versprochen, dass ich wieder zu meiner Congee-Diät zurückkehren werde.«
»Das wird uns alle sehr froh machen.«
»Ich habe noch ein anderes Motiv.«
Ava setzte sich an sein Bett und nahm seine Hand. »Möchte ich wissen, welches?«
»Ich muss nach Schanghai«, sagte er mit mehr Energie in der Stimme.
»Nach Schanghai?«
»Guck nicht so alarmiert. Ich habe das gestern mit Parker besprochen, und er sah keinen Grund, warum ich nicht reisen sollte. Außerdem dauert der Flug nur zwei Stunden.«
»Aber Schanghai …?«
»Ich muss mich um eine geschäftliche Angelegenheit kümmern. Sonny wird mich begleiten.«
Ava versuchte sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. »Eine geschäftliche Angelegenheit?«
»Es ist etwas, das ich mit dir nicht besprechen kann. Ich habe der anderen Partei mein Wort gegeben, dass niemand sonst einbezogen werden würde.«
»Du nimmst Sonny mit.«
»Um meine Sachen zu tragen und mich zu fahren, mehr nicht.«
»Onkel, das ist ziemlich befremdlich«, erwiderte sie irritiert.
»Es tut mir leid, dass ich dir das so mitteilen muss, aber es ist etwas, mit dem ich mich schon eine Weile befasse. Jetzt fügt sich allmählich alles zusammen, und zwar besser, als ich es mir erhofft hatte. Die Einladung kam gestern, und wir hatten noch keine Gelegenheit, darüber zu sprechen. Sie hat mich in Euphorie versetzt – ich war so aufgeregt, dass ich gegessen und getrunken habe wie ein Idiot … Ava, die Sache hat nichts mit einem unserer früheren Aufträge zu tun und auch nicht mit Menschen, denen du je begegnet bist. Wenn es so wäre, würde ich dich mitnehmen, also guck nicht so enttäuscht. Außerdem wird es dir eine Atempause verschaffen. Jetzt, wo die Hochzeit vorbei ist und ich einige Tage fort bin, hast du ein bisschen Zeit für dich.«
»Für wie lange?«
»Drei oder vier Tage. Sie haben mir eine Suite im Peninsula Hotel reserviert.«
»Und Dr. Parker heißt das gut?«
»Absolut.«
»Onkel –«
»Bitte lass uns nicht darüber streiten, Ava. Mein Entschluss steht fest.«
»Und falls es ein Problem gibt?«
»Dann wird dich jemand anrufen – versprochen!«
SIE SCHLIEF UNRUHIG,wurde immer wieder wach mit dem nagenden Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie schaute auf das Benachrichtigungslämpchen des Hoteltelefons. Es blinkte nicht. Sie überprüfte ihr Handy. Keine Sprachnachrichten, keine Textnachrichten. Onkel wird es gutgehen , sagte sie sich. Gegen Mittag wachte sie schließlich auf, und siedend heiß fiel ihr ein, dass sie sich mit May Ling zum Frühstück hatte treffen wollen.
Ava rief ihre Freundin auf dem Handy an. May antwortete beim zweiten Klingeln.
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