»In Ordnung.«
»Außerdem denke ich, dass ich nach Amsterdam fliegen könnte.«
»Und was ist mit Onkel?«
»Er und Sonny wollen für drei oder vier Tage nach Schanghai, also werde ich hier nicht gebraucht.«
»Onkel ist in der Lage zu reisen?«
»Sein Arzt hat ihm grünes Licht gegeben.«
May lächelte. »Das klingt besser, als ich zu hoffen gewagt habe.«
»Es löst unser Problem jedoch noch nicht. Sag, was gedenkst du im Hinblick auf die Schwestern und das Unternehmen zu tun? Die beiden müssen am Boden zerstört sein, und wie hält sich die Firma bei diesem drastischen Liquiditätsengpass über Wasser?«
»Ich hoffe, die Schwestern beruhigen zu können.«
»Und was ist mit dem Unternehmen? Ist es zu retten?«
»Vielleicht. Wir werden Geld reinstecken müssen, und ich muss mit ihnen über die Bedingungen verhandeln. Ich denke außerdem, dass wir Amanda hinschicken müssen, sobald sie aus den Flitterwochen zurück ist. Sie wird einen stabilisierenden Einfluss auf die beiden haben, und ehrlich gesagt ist mir wohler, wenn ich weiß, dass sie ein Auge auf unser Geld hat – sowohl auf die alte Einlage als auch auf das, was wir nachschießen müssen.«
»Das wird bestimmt kein Problem für sie sein.«
»Unser Investment hätte eigentlich kein Problem sein sollen«, erwiderte May und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, daraus spricht meine Frustration über die Situation. Es ist keine Kritik an Amanda.«
»Ich verstehe.«
»Noch eine Sache: Ich habe die Schwestern gebeten, den fiesesten, abgebrühtesten Anwalt anzuheuern, den sie auftreiben können.«
»Warum das?«
»Ich möchte wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, die Brüder zu verklagen.«
»Ernsthaft?«
»Absolut.«
»Du weißt nicht, ob sie irgendwie in ein Betrugsmanöver verwickelt sind.«
»Und?«
»Du hast nichts als Vermutungen.«
»Das heißt nicht, dass wir sie nicht dennoch verklagen können. Wir brauchen keine Beweise, um Anschuldigungen zu erheben – wir brauchen nur eine plausible Geschichte. Wollen doch mal sehen, wie sie reagieren, wenn wir sie unter Druck setzen. Wer weiß schon, wo das hinführen könnte?«
»Ich dachte, in China könnte es Jahre dauern, bis eine Klage auch nur erhoben wird.«
May trank einen kleinen Schluck von ihrem Martini. Sie wirkte inzwischen gefasster. »Wer hat was von China gesagt?«
»Das Unternehmen ist nicht in China angesiedelt?«
»Nein, in Borneo.«
Ava verbarg ihre Überraschung nicht. »In Borneo?«
»So habe ich auch reagiert, als Amanda mir anfangs erzählt hat, dass die Produktionsstätte dort angesiedelt ist, aber als ich dort war und die Schwestern kennengelernt habe, sind mir die Augen aufgegangen. Das Unternehmen ist gleich vor den Toren Kota Kinabalus, der Hauptstadt des Bundesstaates Sabah, und die Gegend ist viel besser entwickelt, als ich mir je hätte träumen lassen.«
»Das Gebiet gehört zu Malaysia, richtig?«
»Sabah – ja. Die Insel ist dreigeteilt. Der große südliche Teil, Kalimantan, gehört zu Indonesien. Die Nordküste besteht aus den beiden malaysischen Bundesstaaten Sabah und Sarawak, und Sarawak umschließt den kleinen Staat Brunei.«
»Borneo …«, sagte Ava und schüttelte den Kopf.
»Ja, und ein Fünf-Sterne-Shangri-la-Resort.«
»Es ist nie Urlaub, wenn man Geld nachjagt.«
»Ich schätze, die Erfahrung werde ich machen.«
»Du hast vorhin Unterlagen erwähnt«, sagte Ava.
»Ich habe sie hier.« May wies auf einen braunen Umschlag, der unter ihrer Handtasche auf dem Sitz neben ihr lag.
»Lass mal sehen.«
May nahm den Umschlag und öffnete ihn. »Hier – das ist die Insolvenzerklärung, die Datum, Uhrzeit und Ort der Gläubigerversammlung enthält«, sagte sie und reichte sie Ava.
Ava überflog sie rasch.
»Und das ist eine Kopie des Beteiligungsvertrags, den wir mit den Schwestern geschlossen haben, sowie eine Kopie unserer Satzung, in der du als Geschäftsführerin und Executive Vice President aufgeführt bist«, fuhr May fort. »Und nur für den Fall, dass du nach Amsterdam fliegst, habe ich unseren Anwalt eine notariell beglaubigte Vollmacht erstellen lassen, die besagt, dass du im Namen unseres Unternehmens im Hinblick auf die Insolvenz entscheidungsbefugt bist.«
Ava lächelte über Mays Vermessenheit.
»Ich dachte, ich sollte etwas in petto haben, falls du nach Amsterdam fliegst. Eine reine Vorsorgemaßnahme – mehr nicht. Ich wollte damit nicht etwa deine Entscheidung vorwegnehmen«, versicherte May.
»Momentai« , entgegnete Ava. »Ich sehe mir die Unterlagen später genauer an. Jetzt lass uns was essen.«
»Ja, bevor die Martinis mich umhauen.«
»Ich glaube, dazu braucht es mehr als ein paar Martinis.«
DIM SUM WAR NORMALERWEISEeine ruhige Angelegenheit – man trank Jasmintee und aß ein wenig von all den kleinen Gerichten, die in gemächlicher Abfolge serviert wurden, aber kaum hatten sie Platz genommen, klingelte Mays Handy. Sie nahm den Anruf entgegen, ihre Brauen hoben sich sofort.
Chi-Tze , formte sie lautlos mit den Lippen.
Ehe Ava reagieren konnte, klingelte ihr eigenes Handy – ein Anruf vom Queen Elizabeth Hospital. Sie hatte sofort ein flaues Gefühl im Magen und nahm den Anruf rasch an.
»Ava, ich bin’s – Onkel.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Jaja. Ich fühle mich besser, aber Parker will mich erst heute Abend oder morgen früh entlassen. Er sagt, wenn ich darauf bestehe zu reisen, bräuchte ich noch mehr Kraft.«
»Gott sei Dank ist wenigstens einer vernünftig.«
»Ich werde mich hüten, mich mit ihm anzulegen.«
»Möchtest du, dass ich vorbeikomme?«
»Nein, das ist nicht nötig. Sonny kommt und holt mich, wenn ich entlassen werde.«
»Und Schanghai?«
»Morgen, schätze ich.«
»Onkel«, sagte Ava langsam, »wenn du nicht in Hongkong bist, dann werde ich vielleicht auch verreisen.«
»Natürlich, nur zu«, erwiderte er. »Aber sag mir, hat das irgendwas mit dem Problem in Borneo zu tun?«
»Wie bitte?« Ihre Überraschung war nicht zu überhören.
Er schwieg, und eine Sekunde lang dachte Ava, sie hätte ihn vor den Kopf gestoßen. Dann fragte er: »Hast du nach der Hochzeit schon mit May Ling gesprochen?«
»Sie sitzt mir gegenüber. Warum fragst du?«
»Changxing.«
»Was ist mit ihm?«
»Er hat mich vor einer Stunde angerufen, um sich zu erkundigen, wie es mir geht. May hat ihm erzählt, dass ich im Krankenhaus bin. Aber eigentlich wollte er mir von einem geschäftlichen Problem in Borneo erzählen.«
May telefonierte immer noch, und Ava sah, dass sie ziemlich beunruhigt war. Sie verspürte wachsenden Unmut. »Warum das?«
»Ich weiß es nicht.«
»Nun, es stimmt, es gibt ein Problem, aber das hat nichts mit ihm zu tun.«
»Er meinte, es geht um eine Menge Geld und dass es dich und May betrifft.«
»Beides richtig.«
»Kannst du das Problem lösen?«
»Vielleicht. May ist im Begriff, nach Borneo zu fliegen, und ich mache mich heute Abend auf den Weg nach Amsterdam, falls ich einen Flug bekomme.«
»Ava, du musst es mir nicht erzählen, aber wie viel Geld könntest du persönlich möglicherweise verlieren?«
»Zwölf bis fünfzehn Millionen US-Dollar.«
»Kein Wunder, dass Changxing mir das unbedingt erzählen wollte.«
»Ich habe das Geld.«
»Dennoch …«
»Onkel, ich komme zurecht«, versicherte sie.
»Mag sein. Aber ich mache mir dennoch Sorgen um dich und deine Zukunft«, erwiderte er. »Wie dem auch sei, ich habe nach Changxings Anruf mit Peter Hutchinson gesprochen. Ich weiß, du und ich haben die wesentlichen Punkte meines Testaments besprochen, aber ich habe ihn gebeten, sich mit dir zu treffen, wenn du Zeit hast, und dir die Einzelheiten und die Zahlen vorzulegen. Du wirst keine Geldsorgen haben, selbst wenn der Verlust doppelt so hoch sein sollte, wie du gesagt hast.«
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