Wuppertal, im August 2020
Claudia Janssen
Die Arbeit an diesem Buch hat mich auf eine Entdeckungsreise in die Lebenswelten einer großen römisch-hellenistischen Stadt, Korinth, geführt. Paulus war Reiseführer in die Geschichte der frühen römischen Kaiserzeit. In seinem ersten Brief nach Korinth wird die Härte des Alltagslebens dieser Stadt spürbar, auch die seines eigenen Lebens. Mitten in dieser Stadt hat sich eine widerständige Gemeinschaft von Menschen aus dem jüdischen Volk und den anderen Völkern zusammengefunden, die eine große Vision haben und aus ihr leben. Dies haben sie aus der Tora gelernt: Israels Gott will die Fülle des Lebens für alle Menschen und die ganze Erde. Paulus teilt den Weg dieser Gemeinschaft mit Begeisterung und Leidenschaft. Durch diesen Brief wurde Paulus für mich Quelle der Inspiration: Es ist möglich, selbst unter solchen Bedingungen ein gemeinsames Leben aufzubauen und sich an der Vision der Gerechtigkeit Gottes für die ganze Erde täglich zu orientieren.
Auf dieser Entdeckungsreise hatte ich treue Gefährtinnen, die mit mir die Neugier auf einen anderen Paulus und die Überraschung über unerwartete Entdeckungen teilten. Ohne den kontinuierlichen exegetischen und spirituellen Dialog mit Claudia Janssen wäre dieses Buch nicht entstanden. Marlene Crüsemann hat die Arbeit von Beginn an begleitet, neue Ideen über den zweiten Brief nach Korinth entwickelt – die für das Verständnis von 1 Kor und Paulus insgesamt grundlegend sind –, und zum Schluss hat sie die Mühe einer redaktionellen Gesamtkorrektur auf sich genommen. Ute Ochtendung hat das Manuskript durchweg kompetent betreut. Ihre Unterstützung und Umsicht hat mich immer wieder zu dieser Arbeit ermutigt. Ich habe die große Freude, mit einer Gruppe von fünf Kolleginnen regelmäßig an der Weiterentwicklung von Übersetzungen in der Bibel in gerechter Sprache arbeiten zu können. Dietlinde Jessen, Luise Metzler, Friederike Oertelt, Susanne Paul und Cathrin Szameit teilten mit mir die Überlegungen zur Übersetzung des ersten Briefes nach Korinth ins Deutsche – von den Details der Wiedergabe einzelner Wörter bis hin zu den grundlegenden Fragen der Relevanz solcher Texte für Gemeinden des 21. Jahrhunderts. Unsere gemeinsame Arbeit war und ist inspirierend, ermutigend und immer vergnüglich. Auf den Wegen der „Dönche“ erlebte ich viele Klärungsprozesse im Prozess meiner Arbeit. Ariane Garlichs stellte kreative und herausfordernde Fragen aus der Perspektive von Erziehungswissenschaft und Psychoanalyse.
Die Mitglieder des „Heidelberger Arbeitskreises für sozialgeschichtliche Bibelauslegung“ haben konstruktiv und kritisch Thesen und erste Entwürfe diskutiert. Wie notwendig und weiterführend es ist, das Neue Testament und Paulus aus der Perspektive des Alten Testaments und der Geschichte Gottes mit Israel zu begreifen, wurde für mich in diesen Diskussionen immer deutlicher.
Die Literaturbeschaffung für dieses Projekt lag weitgehend in den Händen des Teams der Landeskirchlichen Bibliothek Kassel, besonders von Herrn Thron. Er hat Berge von Neuerscheinungen, aber auch seltene und ältere Titel aufgespürt. Die Arbeit des ganzen Teams war eine große Unterstützung für mich. Benjamin Porps kam auch bei Schnee und auf vereisten Straßen mit dicken Fahrradtaschen voller Bücher zu mir. Auf seine bibliographische Kompetenz konnte ich mich verlassen. Mein herzlicher Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kohlhammer Verlages, besonders Herrn Florian Specker vom Lektorat, der auch die Bildnachweise erarbeitet hat.
Ich danke allen, die mich auf diesem Weg begleitet haben, von Herzen. Es war eine wunderbare Zeit.
Kassel, 2012
Luise Schottroff
Einleitung: Wer war Paulus?
In diesem Kommentar stelle ich den ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth aus sozialgeschichtlich-theologischer Perspektive dar. 1Ich möchte meine Sicht auf Paulus, die sich bei der Arbeit daran entwickelt und geschärft hat, in fünf Schritten kurz darstellen. Dabei verweise ich jeweils auf die Textstellen in 1 Kor, bei denen in dem vorliegenden Kommentar weiteres Material zur Sache gefunden werden kann.
Paulus ist als Jude geboren, hat jüdisch gelebt und gearbeitet bis zu seinem Tod. Am Beginn seiner Arbeit für das befreiende Evangelium steht seine Berufung durch Gott. Diese Berufung war Paulus so wichtig, dass er in seinen Briefen vielfach auf sie Bezug nimmt, auch in 1 Kor (1,1; 15,8–10; 9,1.16–27 u. ö.). Durch die Berufunghat er den göttlichen Auftrag bekommen, besonders unter den unterdrückten Völkern des römischen Reiches, den ethne (s. zu 1,22–24), die Botschaft bekannt zu machen, dass der Gott Israels Jesus von den Toten erweckt hat. Jesus war ein jüdischer Mensch, der von Rom weniger als zwanzig Jahre zuvor hingerichtet wurde (s. zu 1,17.18; 2,6–8). Dass Gott diesen Hingerichteten erweckt hat, bedeutet, so verkündet es Paulus, dass die Welt nicht mehr der Herrschaft lebensfeindlicher Gewalten ausgesetzt ist. Gott hat den Todesstrukturen eine Grenze gesetzt. Gott hat damit das Volk Israel und die Völker (ethne) aus der Sklaverei befreit (15,20–22). Diese Sklaverei beschreibt Paulus als Herrschaft des Todes (3,22; 15,22.26.56), als Herrschaft der Sünde(15,56) und der Welt (kosmos 3,22). Diese Mächte zwingen die Menschen, als Mittäter und Mittäterinnen an ihrer Ungerechtigkeit teilzuhaben und sie in ihrem Leben zu praktizieren, d. h. die Tora nicht zu halten (6,9–11; 5,10–11). Politische Analyse und mythische Vorstellungen von weltbeherrschenden dämonischen Mächten fließen hier ineinander.
Sowohl mit der Vorstellung von Berufung als auch mit der von der Herrschaft der Sünde bewegt sich Paulus innerhalb der Traditionen des Judentums. Die Verzweiflung über die Weltmacht Sünde, die jeden und jede versklavt, ist z. B. Thema im 4. Esrabuch (zu Sünde s. Basisinformation bei 9,20). Für die Tradition, in der seine Berufung steht, verweist Paulus auf die prophetischen Bücher (s. zu 1,1). Erst unter dem Einfluss der Abgrenzung des Christentums vom Judentum ab dem zweiten Jahrhundert wurde diese Berufung als Beginn eines vom jüdischen Gesetz befreiten christlichen Lebens verstanden, also als „Bekehrung“. Dieser Begriff ist jedoch dem gegenüber, was Paulus selbst sagt, unangemessen. Paulus ist durch seine Berufung nicht Christ geworden, sondern ein göttlicher Bote, der die befreiende Botschaft von der Erweckung Jesu verbreitet.
Paulus hat Befreiung vom Tun der Ungerechtigkeit unter der Herrschaft der Sünde verkündet, nicht Befreiung von der Tora und der Erfüllung ihrer Weisungen. Es geht also um Befreiung zur Tora, nicht von der Tora (s. zu 7,19.20).
Der erste Brief des Paulus nach Korinth ist insgesamt als Auslegung der Tora primär für Menschen aus den Völkern zu verstehen, die sich dem Gott Israels und seinem Messias zu eigen gegeben haben. Sie verstehen sich selbst nicht als jüdisch. Von jüdischer Seite werden sie als Menschen aus den Völkern (ethne) gesehen und in das breite Spektrum nichtjüdischer Menschen, die jüdisch leben, eingeordnet. In der römisch-hellenistischen Gesellschaft hingegen und vonseiten römischer Behörden wurden sie wohl meist wie Juden und Jüdinnen behandelt. Der Brief gehört in die Geschichte jüdischer Schriftauslegung für die Gegenwart (Halacha; s. z. B. zu 10,1–13; 5,1–11) im ersten Jahrhundert.
Es wurde oft gefragt, ob Paulus mit seiner Vorstellung von der Bedeutung des Messias Jesusnicht bereits den Rahmen des Judentums gesprengt habe. Obwohl dies verbreitet angenommen wird, bleibt Paulus auch in seiner „Christologie“ im Rahmen jüdischer Vorstellungen seiner Zeit. Entscheidend ist für ihn das Sch’ma Israel / Höre Israel, Israels Gott ist einzig (s. 8,5–6). Für ihn verkörpert Gottes Messias mit seinem Leib und mit seinem ganzen Leben göttliches Handeln in der Welt des Volkes Israel und der Völker. Es gibt in seinen Schriften keine Ansätze, den Messias in irgendeiner Weise zu vergöttlichen (s. zu 8,5–6). „Messias“ ist als ein verkörpertes Handeln Gottes vorgestellt, weniger als eine einzelne Person, die von anderen Menschen abgegrenzt wird (s. zu 10,4). Die Annahme, dass das Wort „Messias“ in der ins Griechische übersetzten Form Christos / Gesalbter bei Paulus schon auf dem Wege sei, ein Eigenname zu werden, entspricht nicht seinem Umgang mit dem Wort. Für ihn ist es kein Name; wenn Paulus Christus / Messias sagt, spricht er von Gottes Gegenwart, die die Menschen aus der Sklaverei der Todesstrukturen befreit.
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